Der Titel »Ein guter Tag ist ein Tag mit Wirsing« irritiert auf den ersten Blick – denken doch so manche an eine spannende autobiografische Story (etwa in Assoziation zu dem belletristischen Werk von Marc Haddon: »Super gute Tage oder die sonderbare Welt des Christopher Boone«, München 2003). Tatsächlich aber wird man mit dieser Assoziation dem Werk von Nicole Schuster in keiner Weise gerecht. Wenngleich es für die Autorin gute Tage gibt, nämlich Tage mit Wirsing, geht ihre Schrift doch weit über ein bloßes belletristisches Werk hinaus, indem es als ein »autobiografisches Fachbuch« imponiert. Bis heute scheint es Gepflogenheit zu sein, Autismus zu pathologisieren. Diese Gepflogenheit ist in vielen Schriften aus der klinischen Autismusforschung eine unhinterfragte Prämisse. Dagegen wendet sich unmissverständlich Nicole Schuster: »Für mich ist mein Autismus keine Krankheit, die es zu heilen gilt« (S. 327). Allzu lange habe man autistische Menschen in erster Linie nur über negative Attribute definiert. Stattdessen aber sollten Angehörige oder Unterstützer »ihren Blick für die gute Seite schärfen« (S. 327), nämlich ein Bewusstsein für Stärken, Spezialinteressen oder besondere Fähigkeiten autistischer Menschen entwickeln. Vor diesem Hintergrund werden von Nicole Schuster autismustypische Verhaltensweisen nicht von vornherein als »falsch« oder defizitär betrachtet, sondern durch eine differenzierte Analyse in ihrer Bedeutung für Autisten erschlossen. Dadurch werden manche Verhaltensweisen autistischer Menschen verstehbar; und zugleich gelingt es hiermit der Autorin zu einem größeren Verständnis für Autismus zu sensibilisieren. Ihre Ausführungen sind in dem Zusammenhang keinesfalls nur für Asperger-Autisten relevant, sondern es profitieren alle Menschen, denen ein Autismus nachgesagt wird, ihre Angehörigen sowie weitere Bezugs- oder Umkreispersonen (Lehrkräfte, MitarbeiterInnen in Einrichtungen etc.). Nicole Schusters Buch ist systematisch angelegt, klar gegliedert und gut lesbar. Es beginnt mit Wahrnehmungsbesonderheiten und damit verknüpften veränderten Verarbeitungsprozessen, die bis vor kurzem als Diagnosekriterien vernachlässigt wurden. Allein dieses Kapitel über Wahrnehmungsbesonderheiten beeindruckt durch eine gelungene Mischung von wissenschaftlichen Erkenntnissen, persönlichen Erfahrungen und Schilderungen von anderen Autisten. Damit zeichnet sich das Buch durch eine Lebendigkeit und Einzigartigkeit aus, die sich wohltuend von klinisch geprägten Fachschriften abhebt, welche nicht selten eine (sprachliche) Nüchternheit und Kälte ausstrahlen. Ebenso zugänglich, spannend geschrieben und wissenschaftlich fundiert wie das Kapitel über Wahrnehmungsbesonderheiten sind die nachfolgenden Abschnitte über soziale Interaktion, Kommunikation und Motorik. Ohne jeden Zweifel ist die Schrift ein Empowerment-Zeugnis einer Expertin in eigener Sache, die einen beachtlichen Weg zurückgelegt hat, um ihre Probleme weiß, zugleich aber auch Erklärungen und Lösungsmuster parat hat und uns Stärken sowie die feste Überzeugung vor Augen führt, dass für sie ein Leben ohne Autismus nicht wünschenswert sei (S. 327). Von hier aus lässt sich unschwer eine Brücke zur Konvention über die Rechte behinderter Menschen der Vereinten Nationen schlagen, der ein Diversity-Ansatz einverleibt ist, welcher Behinderung als Bestandteil menschlicher Normalität, Vielfalt und Bereicherung betrachtet. Genau das ist ebenso die Botschaft von Nicole Schuster: »Menschen, die wie autistische Menschen ›anders‹ sind, machen unsere Gesellschaft erst bunt und interessant« (S. 327). Zudem ist es der Behindertenrechtskonvention um das Leitprinzip der Inklusion zu tun, und zwar nicht etwa im Sinne einer Einbeziehung behinderter Menschen in die Gesellschaft, wie es manche fälschlicherweise behaupten, sondern um ihre unmittelbare Zugehörigkeit – und auch darum ist es gleichfalls Nicole Schuster zu tun, wenn sie dafür plädiert, Autisten in ihrem So-Sein zu akzeptieren und ihnen Freiräume zu lassen, wo sie ungehindert ihre Persönlichkeit entwickeln und entfalten dürfen. Dass sie hierbei nie den Blick für Schwierigkeiten autistischer Menschen verliert, zugleich aber Zuversicht und ein positives Denken ausstrahlt, ist eine besondere Stärke, die die gesamte Schrift fühlbar durchdringt. Alles in allem fasziniert Nicole Schuster mit ihrer »Innensicht«, die sie auf gelingende Weise im Hinblick auf Fragen zum Autismus und eine »Außensicht« über autistisches Verhalten anzuwenden und aufzubreiten weiß, so dass ein fachlich fundiertes Buch entstanden ist, welches nicht nur lesenswert, sondern für alle, die mehr über Autismus wissen und verstehen möchten, uneingeschränkt zu empfehlen ist.
Georg Theunissen
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