Bei dem am 16.11.2020 erschienen Buch von Joachim Bauer handelt es sich um ein hochaktuelles Buch, das Fragen über die Erziehung zu einer ökologischen Sensibilisierung aufwirft. Empathie und Beziehungsfähigkeit sind Grundvoraussetzungen für das menschliche Zusammenleben und die pädagogischen Beziehungen in der Schule. Joachim Bauer setzt sich mit dem Phänomen auseinander, dass sich trotz der wissenschaftlichen Befunde zur bedrohlichen ökologischen Lage unseres Planeten, der Großteil der Menschen nur eine geringe oder keine Änderung ihrer Lebensführung zeigt. Joachim Bauer widmet sich als Neurobiologe, Arzt und Psychotherapeut der Frage, wie ein ökologisches Bewusstsein und umweltbewusstes Handeln entwickelt werden können. Dabei geht er von der Hypothese aus, dass die Förderung der Empathiefähigkeit entscheidend dazu beitragen kann. Ausgehend vom Ursprung der menschlichen Zivilisation entwirft er diesen Argumentationszusammenhang in den ersten vier Kapiteln seines Buches. In Kapitel 5 werden Lösungswege erarbeitet, die für die Bildungs- und Erziehungsarbeit von grundlegender Bedeutung sind.
In seinem historischen Exkurs im Kapitel 1 beschreibt Bauer das Verstehen der Natur als grundlegende Kompetenz der Menschen zur Sicherung des Überlebens vor der Sesshaftigkeit: „Die Natur zu verstehen – wie es der Titel dieses Buches formuliert – zu fühlen, was die Welt fühlt, ist keine romantische Vermenschlichung, keine Anthropologisierung, sondern war über Zehntausende von Jahren das Kerngeschäft unserer Vorfahren“ (S. 13). Bei der Fähigkeit, sich in die Natur einzufühlen, handelt es sich um eine einzigartige Fähigkeit der Menschen, die heute weitgehend verloren sei: „Unsere Vorfahren mussten, wenn sie weiterzogen, ständig eine neue Welt entdecken. Daher ist die Verbundenheit, die sich im Laufe der evolutionären Vorgeschichte zwischen Mensch und Natur entwickelt hat, einzigartig“ (S.14). Bauer stellt den Widerspruch zwischen der objektiven ökologischen Bedrohung und dem Mangel an einer angemessenen subjektiven Reaktion der Menschen (S. 19) als Ausgangspunkt unserer heutigen ökologischen Probleme dar.
Im Kapitel 2 beschreibt er, wie seit der Sesshaftwerdung der Menschheit durchweg Störungen des natürlichen und ökologischen Gleichgewichts die Ursache dafür waren, dass Kulturen unerwartet und in erstaunlich kurzer Zeit an Bedeutung verloren. In Kapitel 3 geht er auf die Ergebnisse aus Erkenntnissen der Earth-System-Science-Forschung, einer neuen Forschungsrichtung (Steffen et al., 2020; Afelt et al., 2018), ein. Afelt und Kollegen haben die Corona-Pandemie 2018 vorausgesagt, ohne dass dies Folgen für das gesellschaftliche Handeln gehabt hätte. Bauer sieht hierfür Fehlentwicklungen in unserer Gesellschaft als Ursache an, die er im Kapitel 4 „Die Schwächung der Gesellschaft durch Narzissmus, Spaltung und Desinformation“ zusammenfasst. Bauer betrachtet die Förderung von Empathie- Potentialen als Lösung zu einer ökologischen Sensibilisierung. Im Rückgriff auf die Psychoanalyse formuliert er, dass nur Menschen, die selbst Empathie in der Kindheit erfahren haben, diese Fähigkeit entwickeln können. Er stellt aus seinen früheren Arbeiten bekannte Erkenntnisse zur Entwicklung des Selbst auf der Basis von Resonanzerfahrung vor.
Bauer schlussfolgert, dass Menschen, die empathisch gegenüber ihren Mitmenschen seien, auch ein stärkeres Bewusstsein für die Natur und Umwelt entwickeln können. Hierbei greift er unter anderem auf Forschungen von Zhang und Kollegen(2014), Spitzer (2019) und Patterson et. al. (2020) zurück. Bauer geht auf die möglichen positiven Wirkungen von Gruppenidentitäten ein, um die Möglichkeiten zur Stärkung von Empathiepotenzialen in Gruppen darzulegen. Er betrachtet auch die Gefahren von Gruppenidentitäten: Schließen sich junge Menschen, die sich aufgrund von mangelnden positiven Empathieerfahrungen benachteiligt und geringeschätzt fühlen, beispielsweise populistischen Gruppen an, so können Gruppen auch Feindseligkeit und Aggressionen stiften sowie dazu beitragen, dass Fake News oder Verschwörungstheorien lanciert und geglaubt werden. Bauer beschreibt die ökologische Bewahrung der Erde als einen universellen Anspruch, der an die Seite der Universalität der Menschenrechte gestellt werden sollte. Empathie sei die entscheidende Voraussetzung dafür, dies zu begreifen. „Nur, wenn die prekäre ökologische Lage unseres Planeten, nicht nur unsere Vernunft, sondern auch unsere Gefühle erreicht, werden wir das Momentum und die Energie gewinnen, unsere Lebensweise zu ändern“ (S. 39). Die Corona-Pandemie sei ein Glied in einer Kette von Ereignissen, die als Folge des rücksichtslosen Eindringens des Menschen in Biotope der Tierwelt zu verstehen seien. Hierbei greift er auf aktuelle Forschungsergebnisse von Steffen und Kollegen (2020) sowie Afelt und Kollegen (2018) zurück.
Im Rückgriff auf Immanuel Kant fordert Bauer das moralische Handeln um die Perspektivität der ökologischen Ethik zu erweitern. Zur Erreichung dieses Ziels gilt es die Empathiepotenziale von Menschen zu stärken. Deshalb muss der Fokus der Arbeit in Bildungseinrichtungen auf der emotionalen und sozialen Förderung durch verlässliche Beziehungen liegen. Diese sichern die Empathiefähigkeit, die sich auch in einer verbesserten Wahrnehmung der Umwelt und einem naturfreundlichen Handeln niederschlagen kann. Nach Bauer ist es für die Erziehung zu einer ökologischen Sensibilisierung in Schulen notwendig, Aktivitäten mit Kindern und Jugendlichen in der Natur sowie fächerübergreifende Unterrichtsprojekte zu ökologischen Fragen durchzuführen. Bauer verweist auf Studien, die zeigen, dass solche Aktivitäten zu einer stärkeren Bereitschaft beitragen, sich in Umweltfragen zu engagieren. Das Buch von Joachim Bauer enthält viele neue Erkenntnisse und gibt Denkanstöße in Zeiten der Corona-Pandemie und des Klimawandels. Das Buch ist spannend zu lesen und zieht die Leserinnen und Leser von der ersten bis zur letzten Seite in seinen Bann. Es gibt einen wichtigen Anstoß zu Fragen an die Bildungs- und Erziehungsarbeit in inklusiven Schulen und Förderschulen.
Literatur
- Afelt, A.; Frutos, R. & Devaux, C. (2019). Bats, Coronaviruses, and Deforestation: Toward the Emergence of Novel Infectious Diseases? Frontiers in Microbiology, 9: 702 https://doi.org/10.3389/ fmicb.2018.00702
- Patterson, R.; Panter, J.; Vamos, E.P.; Cummins, S. Millett, C. & Laverty A.A. (2020). Associations Between Commute Mode and Cardiovascular Disease, Cancer, and All-Cause Mortality, and Cancer Incidence, Using Linked Census Data Over 25 Years in England and Wales: A Cohort Study. The Lancet, 4 (5) :e186. https://doi.org/10.1016/S2542-5196(20)30079-6
- Spitzer, M. (2019). Natur – Eine Dosis-Findungsstudie. Nervenheilkunde, 38 (9), :615-617. Doi: 10.1055/a-0928-3204
- Steffen, W.; Richardson, K.; Rockström, J.; Schellnhuber, H.J.; Dube, O.P., Dutreuil, S.; Lenton, T.M. & Lubchenco, J. (2020). The Emergence and Evolution of Earth System Science. Nature Review Earth & Environment, 1, 54-53. https://doi.org/10.1038/s43017-019-0005-6.
- Zhang, J.W.; Piff, P.L.; Iyer, R.; Koleva, S. & Keltner, D. (2014). An Occasion for Unselfing: Beautiful Nature Leads to Prosociality. Journal of Environmental Psychology, 37,61-72. https://doi.org/10.1016/j. jenvp.2013.11.008
Ulrike Becker
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