Das Lehrwerk „Pädagogik bei zugeschriebener geistiger Behinderung“ ist in der Reihe „Kompendium Behindertenpädagogik“ erschienen und folgt der Gliederung aller Bände der Reihe mit drei Schwerpunkten: Disziplin; Profession und Institutionen.
Die vier Herausgeberinnen (zugleich Autorinnen) sind Wissenschaftlerinnen im Arbeitsbereich der Pädagogik im Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung im Institut für Förderpädagogik der Universität Leipzig. In der Vorbemerkung der Autorinnen wird eine eigene Standortbestimmung als Frauen ohne Behinderungserfahrung, jedoch mit einer Vielzahl von Erfahrungen mit Menschen mit Behinderungserfahrung vorgenommen (S.11). Diese selbstreflexive und kritische Vorgehensweise, die beim Lesen immer wieder spürbar wird, gibt dem Kompendium eine durchaus persönliche Rahmung.
Mit der Vorbemerkung der Autorinnen, einer Einführung, der Begrifflichkeitsdiskurse und dem Grundverständnis zum „Etikett Geistige Behinderung“ erfolgt eine Hinführung zu den drei großen Schwerpunkten: Disziplin, Profession und Lebensbereiche / institutionelle Strukturen. Durch Kategorisierung, Rekategorisierung und Dekategorisierung werden die verschiedenen Positionen und Diskursstränge aus Sicht der Autorinnen ausgelotet. Am Ende des Kapitels entwickeln die Autorinnen ein trianguläres Grundverständnis differenter Anerkennungs- und Zuschreibungsfaktoren im Kontext des Etiketts „Geistige Behinderung“ (S. 33).
Teil I: Die Pädagogik bei zugewiesener geistiger Behinderung erfolgt in Abgrenzung anderer disziplinärer Kennzeichnungen und versteht sich als Disziplin einer verbesondernden Pädagogik. Mit dieser schwingt deutlich die selbstrefl exive und kritische Position der Autorinnen mit. In markanter, zusammengefasster und erkenntnisreicher Art und Weise erfolgt die Darstellung historischer Entwicklungen und ethischer bzw. philosophischer Grundlagen, welche in Bezug zu pädagogischem Handeln einschließlich der Ambivalenzen diskutiert werden.
Im Kapitel „fachwissenschaftliche Zugänge“ nehmen die Autorinnen vier Zugänge zum Konstrukt „Geistige Behinderung“ als Außenperspektive auf und stellen darüber hinaus die Bedeutung subjektiver Perspektiven als „viel wirkmächtiger“ (S. 101) dar. Der Forschung im Kontext zugeschriebener geistiger Behinderung wird ein spezifischer Fokus gewidmet. Der erste Teil schließt mit einer ausführlichen Diskussion um disziplinäre Kernfragen, die den Diskursen wertvolle Anregungen geben.
Teil II: Professionsentwicklung und Konzepte In Teil II fragen die Autorinnen nach der Rolle der Pädagogik bei zugeschriebener geistiger Behinderung, nach der Spezifizierung, aber auch nach der allgemeinen Professionsentwicklung. Pädagogische Leitkonzepte, die Diagnostik, die Bildung, die Förderung, Therapie, Pflege und die professionellen Kooperationen behandeln übergreifende und komplexe Themenfelder, welche an verschiedenen Stellen durch Exkurse, wie bspw. „leichte Sprache“ und „herausforderndes Verhalten“ weiter ausdifferenziert werden. Am Ende des zweiten Teils erfolgt in Fazit und Perspektiven die Darstellung von Spannungsfeldern, Paradoxien und Refl exionsanforderungen.
Teil III: Lebensbereiche und institutionelle Strukturen In Teil III bedienen sich die Autorinnen einer lebenslauf- bzw. altersbezogenen Chronologie. So werden den Eltern/der Familie, dem vorschulischen Bereich, der Schule, dem Beruf, dem Wohnen, der Freizeit, dem Alter und Krankheit, Sterben, Tod und Trauer jeweilige Unterkapitel gewidmet. Auch dieser Teil schließt mit Fazit und Perspektiven. Die Autorinnen werfen Fragen nach ReInstitutionalisierung oder DeInstitutionalisierung, nach Kategorisierung und Dekategorisierung im Kontext von Institutionalisierung auf und laden ein, entlang dieser Spannungsfelder, Ambivalenzen und Diskontinuitäten weiterzudenken.
Den Autorinnen gelingt es mit diesem Lehrwerk, einen Überblick über komplexe Fragen und gewonnene Erkenntnisse der Disziplin, der Profession und der Institutionen im Kontext zugeschriebener geistiger Behinderung zu vermitteln. Sie verstehen es, sowohl selbst- und gesellschaftskritisch als auch sprachsensibel die drei großen miteinander in Beziehung stehenden Schwerpunkte zu diskutieren. Dabei hinterfragen sie sich selbst und laden die Leserinnen und Leser dazu ein, sich zu diesen Fragen und Schwerpunkten ins Verhältnis zu setzen. Somit kann dieses Lehrwerk als einführendes Kompendium für Studierende und Interessierte aus Theorie und Praxis ebenso empfohlen werden wie für Wissen schaftlerinnen und Wissenschaftler, die die Einladung der kritischen Auseinandersetzung der Autorinnen folgen, die jeweils aufgeworfenen Fragen und Spannungsfelder weiter zu diskutieren und somit eine Entwicklung von Disziplin, Profession bzw. Institutionen/Organisationen bewirken zu können.
Kerstin Zieme
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