Klaus Klemm ist einer der profiliertesten deutschen Erziehungswissenschaftler und Professor (em.) für Bildungsforschung und Bildungsplanung an der Universität Duisburg-Essen. Seit 2010 gehört er dem Expertenkreis „Inklusive Bildung“ der Deutschen UNESCO-Kommission an und auch in seiner neuesten Buchveröffentlichung befasst er sich mit der Entwicklung der schulischen Inklusion. Klemm geht der Frage nach, ob und wie sich Deutschland bei der Gestaltung seines allgemeinbildenden Schulsystems der in der UN-Konvention formulierten Zielsetzung, Menschen mit Behinderungen vom allgemeinen Unterricht in den Grund- und Sekundarschulen nicht auszuschließen, angenähert hat. Dazu wählt er unterschiedliche Zugänge, die er in zehn Schritten entfaltet, bevor er einen Ausblick auf den weiteren Weg zur inklusiven Schule wagt.
Seine Studie überzeugt durch große Leserfreundlichkeit, die kompakte Darstellung komplexer Sachlagen, eine übersichtliche Präsentation empirischer Befunde, nachvollziehbare Analysen und prägnante Zusammenfassungen. Leserinnen und Leser dürfen sich bestens über den Stand der schulischen Inklusion informiert fühlen. Da zentrale Grundbegriffe und Inklusionskonzepte durchgängig verständlich erläutert werden, ist das Buch auch als „Lektüre für Einsteiger“ sehr geeignet. Eine solide Grundlage stellt der Rückblick auf Meilensteine des etwa 100jährigen Weges von der Exklusion förderbedürftiger Kinder über ihre Integration in den allgemeinen schulischen Unterricht bis hin zum „Projekt Inklusion“ der Gegenwart gemäß UN-Konvention dar. Klemms kenntnisreiche Analyse der schulgesetzlichen Verankerung von Inklusion in den Bundesländern zeigt jedoch, dass rechtliche Regelungen oft bis heute – etwa auf Grund von Ressourcenvorbehalten – hinter dem Grundgedanken der UN-BRK zurückbleiben. In diesem Kontext werden problematische Rahmenbedingungen, offene Fragen und Herausforderungen wie Fachkräftemangel, unzureichende Qualifizierungsangebote für multiprofessionelle Teams, das Ressourcen-Etikettierungs-Dilemma oder die beachtlichen Länderunterschiede bei der Diagnose sonderpädagogischer Förderbedarfe identifiziert. Die ebenfalls zentrale Frage nach inklusionstauglichen Schulbauten wird hier leider nur angerissen.
Klemms ausführliche bildungsstatistische Analyse belegt, dass sich die meisten Bundesländer seit 2008 / 09 den Zielen der UN-Konvention angenähert haben, manche aber beim Abbau exklusiven Unterrichts nur langsam voranschreiten bzw. sich sogar von diesen Zielen entfernen. Hier werden zutreffend auch exklusive Tendenzen bei der unterschiedlichen Beteiligung der Schulformen an der Inklusion konstatiert und eine „ganz neue Variante der Exklusion (bestimmter Schülergruppen) vom schulischen Lernen“ (S. 52) moniert, welche im Zuge der Corona-Pandemie neue Formen der Benachteiligung für Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf mit sich bringt. Repräsentative Elternbefragungen attestieren inklusivem Unterricht eine hohe Qualität, zugleich werden Personalausstattung und Klassengrößen weithin als unzureichend wahrgenommen. Klemm fordert daher zu Recht eine Nachbesserung bei den Rahmenbedingungen schulischer Inklusion, vor allem hinsichtlich der Ressourcenausstattung. Dem mag man sich uneingeschränkt anschließen.
Die vom Autor zitierten empirischen Studien fokussieren die (leicht bessere) Leistungsentwicklung inklusiv unterrichteter Schülerinnen und Schüler. Schade, dass Fragen ihrer sozialen Partizipation nur gestreift werden, ist diese doch ebenfalls äußerst bedeutsam für das Gelingen von Inklusion. Es mag zudem auf manche Leser sehr ernüchternd wirken, wenn Klemm bilanziert: „Keine Studie der empirischen Bildungsforschung bietet eine Grundlage für die These, Inklusion sei gescheitert“ (S. 85). Diese Feststellung wirft natürlich Fragen auf und zu Recht markiert der Autor hier ein Forschungsdesiderat: Mehr belastbare Studien könnten dazu beitragen, die vorhandene breite Zustimmung und das generelle Vertrauen in das Gelingen inklusiver schulischer Bildung nachhaltig zu stärken und Vorbehalte, Skepsis und Ängste („Werden leistungsstarke Kinder gebremst?“) abzubauen.
Klemms abschließender „Blick in die Zukunft“ bezieht sich auf die von der KMK erwarteten Exklusionsquoten der Bundesländer bis 2030, die ihm als „zentrale Größe“ (S. 74) für die Beurteilung des Erfolgs der Inklusion gelten. Gemäß einer Vorausberechnung der KMK werde es keinen weiteren Fortschritt geben. In einzelnen Ländern werde ein moderater Ausbau der Inklusion erwartet, in anderen weiter steigende Exklusionsquoten. Seine aufschlussreiche Analyse bildungspolitischer Strategien und länderspezifischer Grundmuster der Umsetzung lässt dabei Maßnahmen und perspektivische Planungen erkennen, die einen Rückgang der Exklusionsquote zwar nicht ursächlich begründen, jedoch „im Ansatz“ (S. 82) erklären und begünstigen können. Der „dürftige Fortschritt“ bzw. das prognostizierte „Ausbremsen“ (S. 85) des Inklusionsprozesses bis hin zum Stillstand stehen für Klemm im Widerspruch zu den Zielen der UNBRK, zur starken Zustimmung in der breiten Öffentlichkeit und zu den empirischen Belegen zumindest für das Nicht-Scheitern der Inklusion. Andererseits zeigen ermutigende Ergebnisse der Arbeit in den Schulen und den Ländern, die sich konsequent auf den Weg gemacht haben: „Inklusion ist machbar“ (S. 87).
Insofern ist Klaus Klemm ein informatives, hilfreiches, aufrüttelndes und ermutigendes Buch gelungen. Es ist höchste Zeit für die richtige Weichenstellung!
Michael Klein-Landeck
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