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Bösewicht, Sorgenkind, Alltagsheld: 120 Jahre Behindertenbilder in der Kinder und Jugendliteratur
Sierck, Udo (2021). Weinheim: Beltz. ISBN: 978-3-7799-6332-5

Von der Schatzinsel (1897) bis zur „Quasselstrippe“ (2020) lädt Udo Sierck zu einer spannenden Zeitreise ein. Thema: Die Darstellung von Behinderung und Menschen mit Beeinträchtigungen in der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur der letzten 120 Jahre. In chronologischer Reihenfolge präsentiert er Textproben aus etwa 100 Werken namhafter Autorinnen und Autoren wie J. Spyri, E. Kästner, A. Lindgren oder P. Härtling, die er sozialhistorisch einordnet und literaturkritisch kommentiert. Seine persönlich geprägte Auswahl wird leider nicht näher begründet, vermittelt aber ein lebendiges Bild davon, wie Literatur jungen Leserinnen und Lesern bis heute bestimmte „Behindertenbilder“ nahebringt. Dabei werden sowohl Brüche als auch Kontinuität sichtbar.

Der Titel „Bösewicht, Sorgenkind, Alltagsheld“ ist aussagekräftig: Der behinderte Mensch als unheimlicher, bedrohlich wirkender Bösewicht, der durch seine äußere Gestalt abschreckend wirkt; der zum Feindbild und zur finanziellen Belastung für das Volk stilisiert wird; der sich als bedauernswertes Sorgenkind geduldig in sein Schicksal fügt, aber mit Gottes Gnade vielleicht eine wundersame Heilung erfährt; der Alltagsheld, der nur durch übermenschliche Anstrengung und herausragende Taten Anerkennung findet. Diese stereotypen Bilder reduzieren Menschen auf ihre Beeinträchtigung, befördern Vorurteile, diskriminierende Etikettierung und machen sie, wie Sierck formuliert, zu „behinderten Figuren“. Dies treffe selbst auf neuere, durchaus gut gemeinte „Betroffenenromane“ zu, die nicht „ohne pädagogischen Zeigefinger und gekünstelte Inklusionsgesten“ (S. 101) auskommen.

Der Autor verzichtet auf eine formale Einteilung in Kapitel, leitet aber geschickt von einer Epoche in die nächste über. So vermittelt das Buch, auch wenn es nicht wissenschaftlich-systematisch – z.B. hinsichtlich transparenter Bewertungskriterien – abgefasst ist, einen lehrreichen Überblick von ersten sonderpädagogischen Ansätzen einer „fürsorglichen Aussonderung“ (S.11) über die menschenverachtenden Euthanasieprogramme des NS-Regimes hin zum Ausbau von Fürsorgeeinrichtungen in der deutschen Nachkriegszeit und schließlich zu integrativen bzw. inklusiven Konzepten der Gegenwart. All dies, vor allem die „langsame Entwicklung zu Anerkennung und Gleichberechtigung“ (S.11), spiegelt sich nachvollziehbar in den ausgewählten Kinder- und Jugendbüchern wider. Vor allem ab Mitte der 1980er Jahre setzen sich dort junge Menschen mit Beeinträchtigung selbstbewusst durch, zunehmend werden autobiographische Erfahrungen literarisch verarbeitet. Nach Sierck markiert dies den Wandel vom „Objekt der Fürsorge“ zum Subjekt der eigenen Erzählung, von der „Figur“ zum Protagonisten. Statt Menschen literarisch auf ein körperliches „Defizit“ zu reduzieren, ist nun eine entschieden größere Bandbreite und Vielfalt thematisierter Beeinträchtigungen erkennbar. Betroffene werden stärker als selbstverständlicher Teil einer vielfältigen Gesellschaft dargestellt, in der die Akzeptanz von Verschiedenheit weiter zunimmt.

Allerdings sieht der Autor hier noch „Luft nach oben“ und wirft einen kritischen Blick auf neuere Bücher, die mit einem „Blick von außen“ geschrieben sind, d.h. nicht von Menschen, die mit einer Beeinträchtigung leben und daher leider keinen authentischen Blick aus der Binnenperspektive ermöglichen. Nach Sierck transportieren manche von ihnen immer noch „Behindertenbilder“, die Klischees bedienen und Vorurteile verstärken, da sie eher die Vorstellungs- und Gedankenwelt der Autorinnen und Autoren abbilden. Zustimmen mag man daher wohl seinem Resümee, es mangele an Büchern, „in denen behinderte Kinder und Jugendliche sich selbst wiedererkennen und mit ihren Helden mitfiebern können […]. Gefragt sind Erzählungen, die die Lebenswirklichkeit abbilden […]. Was es nicht braucht: Behindertenbücher!“ (S. 107).

Sierck verzichtet bewusst auf eine reine Sammlung von Buchempfehlungen im Sinne eines „Best of“ pädagogisch wertvoller Literatur, weil er Entwicklungslinien und Perspektiven aufzeigen will. Die von ihm gezeichnete Entwicklung zeigt eine deutliche Kurve nach oben und hätte eigentlich einen etwas optimistischeren Ausblick gerechtfertigt, liegt doch inzwischen ein recht großes Angebot an modernen, emanzipierten und inklusiven Kinder- und Jugendbüchern vor, die gerade nicht in die berühmte „Heidi- Falle“ tappen, sondern hohen pädagogischen Ansprüchen genügen und damit auch seiner o. a. Forderung (vgl. die vielen Anregungen unter: www.kinderundjugendmedien.de oder www.aktionmensch. de/menschen-und-geschichten/aus-dem-leben/inklusive-kinderbuecher.html).

Für eine überarbeitete Neuauflage dieses Buches wären konkrete Angaben zum empfohlenen Lesealter hilfreich und weitere Hinweise auf geeignete Bilderbücher für die ganz Kleinen wünschenswert. Für historisch interessierte Leserinnen und Leser als auch für Menschen, die auf der Suche nach guten Literaturtipps für junge Leute im Schulalter sind, bietet diese Neuerscheinung aber schon jetzt reichlich „Lesestoff“ und vor allem macht sie Mut!

Michael Klein-Landeck

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