Katja Schwarz forschte an der Fakultät für Sonderpädagogik der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg, Abteilung Förderschwerpunkt geistige Entwicklung. In mehrjährigen Projekten zu in der Praxis vorhandenen und bewährten Bildungs-, Unterstützungs- und Förderangeboten für Menschen mit einer Diagnose aus dem autistischen Spektrum galt ihr theoretisches und praktisches Interesse den Themen Autismus und Inklusion. In der vorliegenden Publikation widmet sie sich besonders der Frage nach der Entwicklung einer angemessenen pädagogischen Haltung in der Begegnung mit Menschen mit Autismus, die sie im historischen Kontext ausführlich refl ektiert. Sie geht von der Annahme aus, dass „die Geschichte des Autismus gleichzeitig die Geschichte der Autismusforschung“ (S. 14) ist. So „soll eine (vorläufi ge) ‚Geschichte des Autismus’ geschrieben werden“ (S. 14). Bei diesem Vorhaben refl ektiert sie die eigene Haltung dem Thema gegenüber. Dabei darf nicht übersehen werden, dass ihr methodischer Zugriff den Gegenstand des Erkennens verändert und umgestaltet. Ein gewagtes Vorhaben, das im wissenschaftlichen Diskurs mit Engagement zu neuen Ufern führt.
Katja Schwarz versteht Autismus als ein menschliches Phänomen, verwendet Menschenbild und Autismusbild synonym und fragt nach den Sichtweisen auf „Autismus und Menschen mit Autismus“ (13). Im Diskurs mit maßgebenden Forschern und Forscherinnen erkundet sie die Beschreibungen und Haltungen bzw. Menschenbilder hinter dem jeweiligen Zugang und intendiert, „verschiedene der Autismusforschung immanente oder sprachlich ausformulierte Sichtweisen auf Autismus sowie Menschen mit Autismus herauszuarbeiten, um einmal der Unübersichtlichkeit der Literatur zu begegnen, vor allem aber, um vermutlich divergierende Verständnisweisen von Autismus komprimiert und transparent zusammen fassen zu können“ (S. 14). Vor dem Hintergrund dieser spannungsreichen Frage gibt die Studie einen Überblick über die Geschichte des Autismus und der Autismusforschung in der BRD vom frühen 20. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Ihre „tiefgehender Beschäftigung“ (S. 9) mit diesem Fragenkomplex zeigt in einer detaillierten zeitlich gegliederten Analyse der Autismusforschung verschiedene historisch gewachsene Zugriffe und Bilder von Autismus. Mit verstehender Haltung und reichhaltigen Erfahrungen erkennt sie drei Sichtweisen bzw. drei Autismusbilder: 1. Eine naturwissenschaftlich- medizinische Perspektive, die dem kategorialen Denken folgt. 2. Eine überwiegend geisteswissenschaftliche Perspektive, die Autismus als Störung und als Form des Menschseins, als eine Möglichkeit menschlichen Handelns und Erlebens sieht und 3. eine Perspektive, in der der Begriff der Störung zugunsten des Begriffs der Verschiedenheit aufgehoben wird, in der Autismus ein Element menschlichen Seins, eine Dimension, ein Unterschied ist (S.215ff). Die Bilder weisen aus unterschiedlichen Perspektiven auf das „Phänomen Autismus und Menschen mit (aber auch ohne) Autismus“ (S.254) hin. Diese einander ergänzende mehrdimensionale und interdisziplinäre Annäherung an das Phänomen Autismus sieht sie als Grundlage für das Erfassen, für das Verstehen, aber auch für die Grenzen des Verstehens des Menschen mit Autismus.
Die Autorin erkennt in ihrer differenzierten wissenschaftlichen Studie Autismus als spezielle Form menschlichen Seins, die sich besonders unter den Bedingungen der Zeit in Isolations- und Vereinsamungstendenzen zeigt und zum Verstehen des autistischen Menschen beitragen. Dieses Verstehen braucht Zeit und Umsicht, um die Fähigkeiten und Beeinträchtigungen des Menschen mit Autismus auch nur annähernd richtig einzuschätzen und aufmerksam zu begleiten (vgl. Zitat S. 215). Geboten ist eine angemessene pädagogische Haltung für das begleitende Handeln. Dem Menschen mit Autismus ist zuerst mit „menschlicher Offenheit“ (S. 10) zu begegnen, ehe er unterstützt wird. Ihre Erkenntnis hatte Paul Moor in seiner ersten heilpädagogischen Grundregel für Kinder auf den Punkt gebracht: „Wir müssen das Kind {in aller Offenheit} verstehen, bevor wir es erziehen.“ Geboten ist das Refl ektieren der eigenen Haltung und der dahinterliegenden verborgenen, immanenten Menschenbilder dem Thema gegenüber mit Blick auf den (auf)gegebenen Menschen.
Die übersichtlich und präzise gegliederte Studie erfüllt höchste Anforderungen mit sechs anschaulichen Abbildungen einer Zeittabelle zu „relevanten Ereignissen für die Autismusforschung“ (15 Seiten), einem umfangreichen Literaturverzeichnis (60 Seiten) und Hinweisen auf Internetquellen (sieben Seiten). Sie gibt offene Impulse für Forschung und Praxis, in der „alles möglich und nichts sicher ist“ (S. 213): „Das ist der Grund für die Annahme, dass bei Verwendung des Autismusbegriffs alles möglich und nichts sicher ist: Er entzieht sich einer Vereinheitlichung, polarisiert mit Beginn seiner Geschichte und bleibt abhängig vom jeweiligen Bild des Menschen. Er bleibt ein (Menschenbild-)Konstrukt“ (S. 229). Es ist der weiteren interdisziplinären Forschung aufgegeben, diese Impulse aufzugreifen, eine Annäherung an die Thematik aus dem menschlichen Zusammensein heraus zu entwickeln, bisherige Arbeitsmerkmale kritisch zu hinterfragen und immer wieder Neuanfänge zu wagen, notwendige Korrekturen einzuleiten und dem Zeitgeist zu widerstehen. Die Studie ist allen, die im Feld der Heilpädagogik, der Therapie und der inklusiven Praxis forschen und arbeiten, als Grundlagenlektüre sehr zu empfehlen. Sie kann der Forschung tiefenhermeneutische Impulse geben und in der intersubjektiven Situation die Denk- und Handlungsweise vom Objekt hin zum Subjekt wandeln. Gerade das heute in der Forschung hoch im Kurs stehende Phänomen Autismus kann das Sehen des Menschen mit Autismus in seinem unversehrten menschlichen Kern ermöglichen.
Ferdinand Klein
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