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Teilhabeziele planen, formulieren und überprüfen: ICF leicht gemacht
Pretis, M. (2020). München: Ernst Reinhardt Verlag. ISBN 978-3-497-02976-1

Manfred Pretis ist Professor für transdisziplinäre Frühförderung an der Medical School Hamburg und EU-Projektkoordinator zur Implementierung der ICF in Schulen. Als Autor befasst er sich u.a. mit Fragen ICF-basierter Arbeit in Frühförderung und inklusiver schulischer Bildung. Mit dem vorliegenden Werk wendet er sich insbesondere an (schul-)psychologische und (sonder-)pädagogische Fachkräfte in Frühförderung, Kita und Schule.

Pretis vertritt ein teilhabeorientiertes Denkmodell, das die größtmögliche gesellschaftliche Partizipation als „Hauptkategorie von Fördermaßnahmen für Menschen mit einem Gesundheitsproblem“ (S.17) versteht. Gemäß Bundesteilhabegesetz und ICF, die beide eine Erarbeitung individueller Teilhabeziele für Kinder und Jugendliche mit unterschiedlichen Entwicklungsschwierigkeiten in allen pädagogischen Handlungsfeldern vorsehen, zeigt er an zahlreichen Beispielen auf, wie dies im Rahmen eines multiperspektivischen und konzertierten Vorgehens von Eltern, Fachkräften und Kindern „auf Augenhöhe“ gelingen kann. Letztere gelten ihm als zentrale Akteure, deren aktive Perspektive dezidiert in den Mittelpunkt rücken soll.

In Kapitel 1 „Was ist Teilhabe?“ schlägt Pretis vor, die „aktive Mitgestaltung und Mitbestimmung von Lebenssituationen“ (S. 10) durch Kinder und Jugendliche in den Fokus zu rücken und die emanzipatorische Perspektive durch die übergeordnete Sinnhaftigkeit ihrer Aktivitäten im Förderkontext zu stärken. Dies setzt für ihn einen gewissen Paradigmenwechsel im Sinne der Abkehr vom Primat der „Behandlung von Störungen“ (S. 13) durch isoliertes Training zum Ausgleich von Defi ziten voraus. Kapitel 2 sensibilisiert für komplexe Wechselwirkungen zwischen den Gesundheitskomponenten der ICF (Gesund heitsproblem, Körperstrukturen und Körperfunktionen, Umwelt und personen bezogene Faktoren, Partizipation), die hier auch in Bezug zum eher defi zitorientierten „Vorläufermodell“ ICD- 10 gesetzt wird. Zusammenhänge zwischen Teilhabe und Umweltbedingungen, wie etwa den entwicklungsförderlichen oder -hemmenden Einstellungen und Verhaltensweisen im familiären Umfeld, werden sichtbar. Viele Praxisbeispiele zeigen, wie sich eine Umwelt förderlich in Richtung erhöhter Teilhabe gestalten lässt.

Kapitel 3 macht deutlich, wie Einschätzung und Bewertung von Teilhabebeeinträchtigungen durch verschiedene Faktoren bestimmt werden: unterschiedliche soziokulturelle Normen, Mangel an Instrumenten zur Messung von Teilhabe, umweltbedingte Erfahrungsdefi zite des Kindes, das jeweilige Entwicklungsverständnis der Fachkräfte oder der Leidensdruck von Eltern. Wie leicht kann es da zu subjektiv-willkürlichen Urteilen oder zu Konfl ikten zwischen Eltern und Fachkräften über die Notwendigkeit von Fördermaßnahmen kommen! Pretis votiert daher für einen engen Austausch mit den Eltern, denen möglichst die Entscheidungshoheit gebühre: „Lassen wir den Eltern Zeit!“ (S. 46), so sein Credo. In Kapitel 4 werden sprachliche und inhaltliche Kriterien einer fähigkeitsorientierten Teilhabeziel formulierung erläutert, die sich auf die Domänen der Gesundheitskomponente „Aktivitäten und Partizipation“ der ICF beziehen und zentrale Lebensbereiche abdecken. In der leicht verständlichen, „familienfreundlichen“ Fassung der ICF illustriert Pretis an vielen Beispielen systematisch, wie sich realistische, erreichbare Teilhabeziele für junge Menschen mit Entwicklungsschwierigkeiten formulieren lassen. Dabei geht er erfreulicherweise auch auf praktische Umsetzungs- und Abgrenzungsprobleme ein. Das kurze Schlusskapitel „Teilhabeziele evaluieren“ betont erneut die Bedeutung eines respektvollen Austausches mit den Eltern. Pretis versteht verfügbare Messinstrumente bzw. Entwicklungstests lediglich als „Hilfsmittel“, da sie alleine das Erreichen von Teilhabezielen nicht adäquat messen können. Für die Entwicklung individueller Therapieziele und geeigneter Interventionsmethoden sei die Betrachtung einer Teilhabeeinschränkung aus verschiedenen, gleichwertigen Blickwinkeln unverzichtbar.

Pretis konstatiert: „Das wirklich Neue an der Auseinandersetzung mit der Teilhabe ist, dass der hauptsächliche Zielaspekt jeglicher Rehabilitation, Förderung, Behandlung oder Begleitung die Erhöhung der Teilhabe sein sollte“ (S. 38). Diese Botschaft im Sinne des heutigen Verständnisses von „Behinderung“ gemäß UN-BRK vermittelt er überzeugend. Dabei gelingt es ihm, den zentralen Stellenwert der ICF als Bezugspunkt für die Arbeit mit Teilhabezielen deutlich herauszuarbeiten. Die Gestaltung des Buchs durch die Verwendung zahlreicher Praxisbeispiele, Abbildungen, Tabellen und optisch hervorgehobener Kernthesen und Defi nitionen ist durchgängig leserfreundlich. Ob der Autor mit seiner Neuerscheinung wirklich „ICF leicht gemacht“ (Untertitel) hat, möge die geneigte Leserin oder der geneigte Leser für sich entscheiden, setzt die Lektüre doch zumindest ein gewisses, bei der adressierten Zielgruppe sicher vorhandenes, sonderpädagogisches bzw. therapeutisches Grundlagenwissen voraus. Allen anderen sei die vertiefende Beschäftigung mit Zielen, Aufbau und Struktur der International Classifi cation of Functioning, Disability and Health (ICF) der WHO (2001) empfohlen, auf die das Buch nicht systematisch und en detail eingeht.

Michael Klein-Landeck

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