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Sonderschule im Nationalsozialismus: Die Magdeburger Hilfsschule als Modell
Hänsel, D. (2019). Klinkhardt: Bad Heilbrunn. ISBN: 978-3781522855

Eine differenzierte Auseinandersetzung mit der Geschichte der (eigenen) Profession ist in Zeiten von Fake News und alternativen Fakten unverzichtbar. Bei der Aufarbeitung des Nationalsozialismus sind allerdings – in der Sonderpädagogik und anderen gesellschaftlichen Bereichen – nach wie vor Lücken vorhanden. Seit einigen Jahren finden jedoch vermehrt historische Forschungen statt, was auch ein Verdienst der Schulpädagogin Dagmar Hänsel ist, die die Geschichte der Hilfsschule und der sonderpädagogischen Historiografie seit mehr als 15 Jahren untersucht.

In ihrem aktuellen Buch von 2019 befasst Hänsel sich in herausragender Intensität mit der Magdeburger Hilfsschule. Die dort tätigen Lehrkräfte haben zahlreiche Beiträge erbracht, die auch nach 1945 Relevanz besaßen. Somit handelt es sich bei der Datengrundlage für die historische Forschung um einen Glücksfall. Die Magdeburger Hilfsschule war „in der Zeit des Nationalsozialismus die bedeutendste Hilfsschule im Deutschen Reich und Modell der nationalsozialistischen Sonderschule“ (S. 7). Angesichts der zentralen Position, die die Lehrkräfte für die Stärkung der Hilfsschule, ihre theoretische Fundierung und die Umsetzung des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ hatten und der Tatsache, dass wesentliche Stränge ihrer Argumentation teilweise bis heute fortbestehen, kann man das Ganze nicht als Agitation einer „kleinen Clique“ (S. 66) abtun. Im umfangreichen Anhang finden sich mehrere Dokumente (wie das Magdeburger Verfahren, mit dem Kinder als hilfsschulbedürftig klassifiziert wurden, und die Elternbroschüre „Denken Sie nur, unser Fritz soll in die Hilfsschule“), die teilweise bereits als verschollen galten. Hänsel merkt an: „Damit sind nämlich auch die Fortsetzungen unsichtbar gemacht worden, die in der Sonderpädagogik nach der NS-Zeit stattgefunden haben. Die Magdeburger Hilfsschule, die (…) als Modell der Hilfsschule als Sonderschule für hilfsschulbedürftige Kinder über die NS-Zeit hinausgewirkt hat, ist denn auch nicht zufällig aus der Geschichtsschreibung ausgespart geblieben“ (S. 270).

Das Buch ist folgendermaßen aufgebaut: Einleitend erläutert die Autorin ihre Herangehensweise und bezieht sich auf den Mythos, die Hilfsschule sei in der NS-Zeit bedroht gewesen – was sie explizit widerlegt. Die Magdeburger Hilfsschule, ihre Entwicklung bis 1933, ihr Ausbau im Nationalsozialismus und die Aktivitäten der Lehrkräfte werden detailliert beschrieben. Dazu gehören z. B. ihre einflussreiche Mitarbeit in der Fachschaft Sonderschulen des Nationalsozialistischen Lehrerbundes (NSLB), ihre Beteiligung am „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ und ihre publizistischen Beiträge zum „rassehygienischen Unterricht“, ihre konzeptionelle Arbeit am Magdeburger Verfahren, ihre schulische Tätigkeit und ihre Kontakte zu Eltern und Kindern. Abschließend geht Hänsel auf die Fortsetzungen nach der NS-Zeit ein, die sich in konkreten Dokumenten in der BRD und der DDR finden.

Dabei geht Hänsel sehr genau vor und beschreibt kleinschrittig die einzelnen Aspekte und Zusammenhänge. Es geht nicht darum, in Frage zu stellen, dass manche Kinder von der Unterstützung möglicherweise (auch) profitiert haben, sondern darum, dass die Kinder als dauerhaft „andersartig“ und hilfs(schul)bedürftig markiert, gesellschaftlich hierarchisch positioniert und exkludiert wurden. Zudem ist zu kritisieren, dass die „Hilfegebenden“ sich häufig als die „besseren Pädagogen“ inszenierten. Hänsel verweist darauf, dass die Lehrkräfte „die Besonderheit und Überlegenheit der Hilfsschule gegenüber der Volksschule und ihre Unentbehrlichkeit für die nationalsozialistische Rassen- und Bevölkerungspolitik […] erweisen“ sollten (S. 66). Insofern findet heute eine perfide Wendung der Argumentation statt – von der Aussonderung zum Zwecke des Volkswohls zur besonderen Förderung aus moralischen Gründen und der Behauptung einer vermeintlich besseren Förderung. Die bessere Förderung kann durch Vergleichsstudien zu Leistungen und zum Wohlbefinden der Schülerinnen und Schüler in exklusiven und inklusiven Settings mittlerweile zumindest bezweifelt werden. Parallelen finden sich auch in anderen Argumentationsmustern: Von Beginn an gab es Elternproteste gegen die Zwangseinweisungen in Hilfsschulen: Im Anhang des Buchs findet sich u. a. der Brief eines Vaters an den Regierungspräsidenten; die Beschwerde gegen die Überweisung seiner Tochter in die Magdeburger Hilfsschule war jedoch chancenlos (S. 183). Aktuell wird jedoch vielmehr die Unverzichtbarkeit des Elternwahlrechts beschworen.

Zentral ist ebenso, dass eine kritische Auseinandersetzung damit erfolgen muss, dass der Begriff „Sonderpädagogik“ in der NS-Zeit etabliert (S. 257f.) wurde und nicht die besonders unterstützenswerten Kinder fokussiert, sondern deren Aussonderung. Insofern ist das Festhalten am Begriff höchst fragwürdig, gleichwohl verändert eine simple Umbenennung (wie von der Hilfsschule zur Sonderschule zur Förderschule) zu wenig. Hänsel ermöglicht eine systematische Analyse der Hilfsschule als Institution und ihrer Positionen im Sinne der „volklichen Brauchbarmachung“ der Kinder (S. 198). Der Blick auf die Kinder war dabei ein zutiefst utilitaristischer und sozialdeterministischer. Die Analyse der Kategorisierungsverfahren und -prozesse zeigt, dass diese von Beginn an willkürliche Elemente beinhalteten, jedoch kaum revidierbar waren. Die institutionellen Eigeninteressen der Hilfsschule wurden dabei stets hinter der Behauptung ihrer angeblichen Notwendigkeit verborgen.

Vorhandene Geschichtsdarstellungen sparen zentrale Veröffentlichungen der NS-Zeit häufig aus, beinhalten z.T. falsche Informationen oder konstruieren Gegensätze auf individueller und institutioneller Ebene. So wird der Einsatz für die Zwangssterilisation mit dem Hinweis bagatellisiert, auch so viel für den Erhalt der Hilfsschule getan zu haben. Exemplarisch wird dieses an dem Protagonisten Karl Tornow deutlich: In seinem Entnazifierungsverfahren behauptete er, das Propagandabuch „Erbe und Schicksal“ mit dem Hilfsschulkinder und Eltern von der Notwendigkeit der Sterilisation überzeugt werden sollten, sei kurz nach seinem Erscheinen 1942 verboten worden. Hänsel weist jedoch nach, dass 1943 eine Rezension des Buchs in der Zeitschrift „Die deutsche Sonderschule“ erschien, die es in höchsten Tönen lobte und vermerkte, das (vormals vergriffene) Buch sei nun endlich wieder zu beziehen (S. 226).

Insgesamt wünsche ich dem Buch eine große Resonanz: Erstens weil die sorgfältige geschichtliche Aufarbeitung eine bestehende Leerstelle füllt und ein anderer Blickwinkel auf behauptete Zusammenhänge ermöglicht wird. Die Stärke des Buchs liegt u. a. darin, dass es aus einer allgemeinpädagogischen bzw. historischen Perspektive die vorliegenden Quellen zugänglich macht. Die Beteiligung der Hilfsschullehrer an völkischen und rassehygienischen Positionen, ihre Propaganda (auch schon vor 1933) und ihre Abgrenzungsbestrebungen von der Volksschule können vor dem Hintergrund vorhandener Kontinuitäten in Argumentationslinien und Dokumenten nach 1945 so besser verstanden und kritisch hinterfragt werden.

Zweitens ist das Buch auch in zeitgeschichtlicher Perspektive gewinnbringend. Es beinhaltet eine Fülle von historisch bedeutsamen Inhalten, beispielweise welche Unterrichtsthemen für Jungen (Werkunterricht) und Mädchen (Hauswirtschaft) als wichtig erachtet wurden. Zudem wird deutlich, wie stark in den unmittelbaren Kriegsjahren die schulischen Themen auf den Nationalsozialismus fixiert waren und Kinder auch für Kriegsdienste, z. B. für Sammeltätigkeiten etc. instrumentalisiert wurden.

Drittens weil auch aktuell – mehr als zehn Jahre nach der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention – der Diskurs über die Umsetzung schulischer Inklusion Besonderheiten aufweist, die m. E. (auch) im historischen Kontext reflektiert werden sollten.

Brigitte Kottmann

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