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Pädagogik bei Autismus. Eine Einführung
Theunissen, G. & Sagrauske, M. (2019). Stuttgart: Kohlhammer. ISBN 978-3-17-036318-2

Medial ist das Thema „Autismus“ in jüngster Zeit verstärkt in den Vordergrund gerückt, sei es im Kontext von Anfeindungen gegenüber der jungen Klimaaktivistin Greta Thunberg oder etwa in Diskussionsforen zur ZDF-Herzkinoreihe „Ella Schön“, gespielt von Annette Frier. Das öffentliche Interesse an dieser „unsichtbaren Behinderung“ scheint groß, das aufgeklärte Wissen darüber oft gering. Von „Zerrbildern“ und einer hohen „Klischeedichte“ ist die Rede, realistischere Darstellungen und mehr sachliche Information über Autismus werden von Betroffenen eingefordert.

Da kommt diese umfangreiche Einführung in die „Pädagogik bei Autismus“ gerade zur rechten Zeit, soll sie doch, so der Anspruch der Autoren, Prof. (i.R.) Georg Theunissen und Mieke Sagrauske von der Universität Halle-Wittenberg, „zum Überdenken herkömmlicher Vorstellungen über Autismus beitragen, zu einer Aufgeschlossenheit anregen sowie richtungsweisende Impulse für die Praxis bieten“ (S. 9). Der Adressatenkreis ist entsprechend breit gefächert: Alle pädagogischen Berufe, Studierende, medizinisch-therapeutische Fachkräfte, Ärzte und Eltern autistischer Kinder können sich hier fundiert und umfassend informieren.

Es gelingt dem Autorenteam, gründlich recherchierte, internationale wissenschaftliche Erkenntnisse verständlich aufzubereiten, ein solides Grundlagenwissen über Autismus zu vermitteln und dabei – u. a. durch das Einflechten gut ausgewählter Fallbeispiele – durchgängig die Praxis zu reflektieren und viele nützliche Anregungen und Hilfestellungen zu geben, so etwa die konkreten methodisch-didaktischen Hinweise zur Gestaltung eines gelingenden inklusiven Unterrichts (Kap. 5).

Überzeugend wird eine grundlegende, stärkenorientierte Perspektive präsentiert, die sich durch alle Ausführungen des Buchs zieht: Beim Autismus herrsche ein breites Spektrum der Äußerungsformen vor, das als „Stärke und Herausforderung zugleich“ (S. 8) zu verstehen sei. Während früher Autisten über lange Zeit primär „im Lichte von Defekten, Defiziten, Fehlverhaltensweisen oder Verhaltensstörungen pathologisiert und behandelt“ (S.7) wurden, stehen die beiden Autoren für einen Paradigmenwechsel im Sinne der Hinwendung von der Behandlungsperspektive (Autismus als Krankheit, Schwäche) zur Unterstützungsperspektive (Autismus als Ausdruck von Neurodiversität, der Vielfalt menschlichen Seins).

Ganz im Sinne der UN-BRK steht hier der einzelne Mensch mit seinen individuellen Stärken, Entwicklungsmöglichkeiten, seinem Recht auf Selbstbestimmung, Respekt, Würde und gleichberechtigte Teilhabe in einer humanen, inklusiven Gesellschaft im Mittelpunkt. Subjektzentrierung, Empowerment als Hilfe zur Selbsthilfe sind die zentralen Konzepte, um „von einem betroffenen Kind aus (subjektzentriert), mit ihm gemeinsam (kooperativ) und im Interesse seiner Entwicklung (antizipatorisch) zu denken und zu handeln“ (S. 117), so dass es als Akteur seiner eigenen Entwicklung das nächst höhere Niveau erreicht, wie die Autoren in Anlehnung an Wygotskys Konzept der Zone der nächsten Entwicklung formulieren. Dieser Anspruch zieht sich wie ein Leitfaden durch die neun Kapitel dieses klar gegliederten Werks und wird dort jeweils ausdifferenziert.

Teil I: Geschichte, Basiswissen und Leitprinzipien für die Pädagogik

Nach einem Rückblick auf die Geschichte der Autismusforschung werden Konturen eines aktuellen Autismusverständnisses skizziert, das einer verstehenden Problemsicht verpflichtet ist. Die Fokussierung auf heil- bzw. sonderpädagogische Prinzipien für die Praxis (Kap. 3) leitet zu zentralen Feldern pädagogischen Handelns über.

Teil II: Pädagogische Praxisfelder, Konzepte und Methoden

Der umfangreichere Teil II spannt einen weiten Bogen von der vorschulischen Erziehung über Schule, Berufsbildung, Arbeiten und Wohnen hin zu pädagogischen und therapeutischen Handlungsmöglichkeiten bei psychischen Begleitstörungen und herausforderndem Verhalten. Hier werden u.a. Möglichkeiten und Chancen der Beratung sowie der kognitiven Verhaltenstherapie aufgezeigt. Nicht nur in Bezug auf das Handlungsfeld Schule favorisieren die Autoren evidenzbasiert inklusive Lernwelten gegenüber Sonderwelten, denn Befunde der Inklusionsforschung ermutigen, so ihr Credo, „zu einer unterrichtlichen Inklusion“ (S.126).

Theunissen und Sagrauske folgen durchgehend einer stärkenorientierten Perspektive und befördern insgesamt das Verständnis für Menschen im Autismus-Spektrum, ohne jedoch die Probleme und Herausforderungen auszublenden, vor die autistisches Verhalten die Bezugswelt mitunter stellt. Auch warnen sie zu Recht davor, dass die prinzipielle Stärkenorientierung nicht zu einer „Fehleinschätzung des Unterstützungsbedarfs bei autistischen Personen“ (S. 81) verleiten dürfe. Damit dürften sie im hohen Maße auch zur Versachlichung der eingangs skizzierten, stellenweise sehr aufgeregten Diskussionen beitragen.

Ein umfangreiches Literatur- sowie ein leserfreundliches Stichwortverzeichnis für die gezielte Suche nach Schlüsselbegriffen runden diesen umfassenden Band ab. Mit „Pädagogik bei Autismus“ legen Theunissen und Sagrauske eine gründliche Einführung in ein bedeutendes Themenfeld vor, die wohl schon jetzt als wichtiges Standardwerk angesehen werden darf.

Michael Klein-Landeck

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