In dem 2019 erschienenen Gemeinschaftswerk eines deutsch-schweizerischen Autorenteams wird die aktuelle Frage der wirksamen und erfolgreichen inklusiven Unterrichtung im Primarbereich vor allem in den Fächern Deutsch und Mathematik auf der Grundlage pädagogischer Diagnostik mehrperspektivisch und ganz konkret thematisiert. In diesem Rahmen erfolgt eine kritische Auseinandersetzung mit Gemeinsamkeiten und Widersprüchen im inklusiven schulischen und gesellschaftlichen Kontext. Das neue Diskurslinien eröffnende Werk umfasst fünf Kapitel, die durch Icons und Online-Zusatzmaterial angereichert sind, sowie einem Literatur- und Sachwortregister.
Einleitend wird das Grundverständnis eines inklusiven Unterrichts ohne Ressourcenvorbehalt aufgezeigt. Im wertschätzenden Umgang mit unterschiedlichen Lernausgangslagen und daraus abgeleiteten adaptierten individuellen und kooperativen Lehr- und Lernarrangements erweist sich diagnostisches Vorgehen als permanente Handlung in vielfältigen Formen als Grundlage für die didaktische Unterrichtsplanung und -gestaltung.
Tanja Sturm zeigt in Kapitel 2 zur „Pädagogischen Diagnostik“ die Notwendigkeit der Vertiefung diagnostischer Kompetenzen aller Lehrkräfte auf, die sich aus den PISA-Ergebnissen und der Inklusion als pädagogischem Anspruch ergeben. In dessen Kontext werden zentrale Begrifflichkeiten geklärt und in ihrem historischen Bedeutungswandel eingeordnet, wobei der Fokus auf dem sozialwissenschaftlichen Verständnis von Behinderung und einer prozesshaften Betrachtung der pädagogischen Diagnostik liegt. Anhand der theoriegeleiteten Modelle von Schuck und Knebel wird der Fokus auf eine lernaktive, evaluative und reflexive Diagnostik gelenkt, die Lehrkräfte befähigt, Lernprozesse zu beschreiben und zu verstehen. Mit dem konstruktivistischen Ziel der bestmöglichen Förderung der einzelnen Schülerinnen und Schüler und in Abgrenzung zum rein normativ-selektiven diagnostischen Vorgehen gilt es, Lernbarrieren zu beseitigen sowie unterschiedliche Aneignungsprozesse und gemeinschaftliches Handeln zu fördern.
In der Anwendung dieser Erkenntnisse eröffnet Christoph Schiefele in Kapitel 3 gegenstands- und handlungsbezogen das komplexe Fachspektrum des sprachlich-literarischen Lernens unter Absicherung der Teilhabe aller. Im Rahmen von multiperspektivischen Zugängen zur Sprache stehen die individuellen Stärken und Fähigkeiten im kommunikativen Dialog im Vordergrund, um das Spannungsfeld von Individualisierung und Normorientierung mithilfe diversifizierender Konzepte positiv aufzulösen. Anknüpfend an die theoretischen Positionen zur pädagogischen Diagnostik aus Kapitel 2 und untersetzt durch gegenseitig relevante, teilhabebezogene Dimensionen einer sprachdiagnostischen Expertise wird die Gestaltung eines inklusiven Deutschunterrichts exemplarisch am Beispiel von Metasprache und Rechtschreibung anhand der Kategorien explizite und implizite Differenzierung sowie Elementarisierung durchdekliniert.
In gleicher Grobgliederung führt Christine Streit in Kapital 4 in den inklusiven Mathematikunterricht ein. In der Darstellung komplexen Fachwissens, u. a. zu Teile-Ganze-Beziehungen, Rechengesetzen und Stellenwertsystemen, werden die Zusammenhänge mit praktischen Beispielen untersetzt. Wesentlich sind die gleichen diagnostischen Zugänge der fachspezifischen Diagnostik nach Schuck und der Mikroanalyse nach Knebel, die die Analyse des Wissenstands der Lernenden zur Ableitung der nächsten Entwicklungsschritte im Fokus haben, in der Abgrenzung zur defizitären Fehleranalyse. Im Rahmen dieser handlungsleitenden Diagnostik, die kontinuierlich, theoriegeleitet und auf Gütekriterien bezogen erfolgt, werden mathematische Denkweisen und Vorstellungen der Einzelnen beobachtet und im nachfolgenden ggf. materialunterstützten diagnostischen Gespräch reflektiert. Ein Modell von Meyer, zwei Gesprächsleitfäden und Gesprächshinweise unterstützen den Prozess. Die diagnostische Expertise der Lehrkraft liegt in der Wahl passender zielgeleiteter Instrumente und in der fachdidaktischen, auf Indikatoren bezogenen Deutungsfähigkeit zur Ableitung adaptiver Lernaufgaben. Anhand von Praxisbeispielen in offener Strukturierung und der Relation von Individualisierung und Kooperation werden koexistente, subsidiäre und kooperative Unterrichtssettings erläutert.
Nach der Darstellung diagnostischer Konzepte zur Passung von Lernvoraussetzungen mit Lernangeboten wird abschließend der fächerübergreifende kommunikative Aspekt beispielbezogen beleuchtet, der auf die Verständnis- und Produktionskompetenz der Lernenden und deren Teilhabe einen großen Einfluss hat.
Der Mehrwert dieses Werks liegt in der Aktualität des dargestellten wissenschaftlichen Erkenntnisstands und des Themas an sich, welches auf komplex-fundierter Fachlichkeit im Rahmen eines gemeinsamen diagnostischen Konzepts mit konkreten Anregungen zur individualisierten, theoriegeleiteten Umsetzung im partizipativen Kontext vertieft bearbeitet wurde und damit dem Anspruch eines angestrebten inklusiven diagnosebasierten Unterrichts gerecht wird.
Cornelia Winkler
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