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Inklusion und Integration von behinderten Kindern in die Regelschule: Eine Kritik
Bonfranchi, R. (2020). Bielefeld: Transcript Verlag. ISBN 978-3-8376-5405-9

Der Autor greift mit seinem Buch ein Thema auf, dass heute zunehmend im Brennpunkt pädagogischer und politischer Diskussionen steht. Wie er selbst schreibt, hat er die Integrations- bzw. Inklusionsbewegung seit ihren Anfängen verfolgt und miterlebt. Dieser breite Erfahrungshintergrund, verbunden mit exzellentem Fachwissen ist Grundlage des Buchs. Mit teilweise provokanten Thesen eröffnet er einzelne Kapitel, in denen er diese Thesen mit theoretischen Erörterungen und praktischen Beispielen scharfsinnig und mit verblüffender Logik belegt. Die Analyse des Autors umfasst alle Betroffenen der sogenannten Integration (wie er diese konsequent nennt) und reflektiert deren unterschiedliche Blickwinkel und Ansprüche.  

In den Kapiteln, die sich direkt mit der Alltagsrealität integrierter Schülerinnen und Schüler befassen, kommen der Erfahrungshintergrund des Autors und seine Kernforderung, die Würde dieser Menschen zu respektieren, deutlich zum Ausdruck. In wohltuender Direktheit vergleicht er die Wünsche und Idealvorstellungen einer „Schule für alle“ mit der Realität und untersucht die gesetzlichen und vertraglichen Vorgaben auf deren tatsächlichen Inhalt und kommt zum Schluss, der Streit spiele sich in der Regel vornehmlich auf einer ideologischen Ebene ab. Damit spricht er das aus, was sich viele in der Praxis tätigen Pädagoginnen und Pädagogen sowie Heilpädagoginnen und Heilpädagogen heute nicht mehr zu sagen getrauen.  

Interessant ist der Fokus auf die Auswirkungen der Integration für die Heilpädagogischen Schulen, was in der Öffentlichkeit kaum diskutiert wird. Der Autor beschreibt sie aus eigener Erfahrung als „Restschulen“, die ein zunehmend heterogenes Spektrum an Schülerinnen und Schülern zu betreuen haben und wie die bemühte Integration ein steigendes Maß an Separation schafft. Ein starker Bezug zur eigenen Praxis wird spürbar, wenn der Autor die gefühlsmäßigen Gründe ausleuchtet, warum Eltern schwer behinderter Kinder eine Integration wünschen, sogar im Wissen darum, dass ihr Kind nicht optimal gefördert werden kann.  

Einen sensiblen Bereich greift der Autor mit der Frage auf, welche Menschen mit einer Behinderung für eine Integration kaum in Frage kommen, weil sie bezüglich der gesellschaftlichen Normen von Intelligenz, Arbeitstugend und Schönheit unter einer kritischen Grenze bleiben. Die philosophiegeschichtlichen Bezüge sind interessant und werden in diesem Kontext sonst selten eingebracht. Das führt über zu grundsätzlichen philosophischen und ethischen Überlegungen, die einen objektiveren Maßstab zur Beurteilung von Integrationsbemühungen ergeben. Wichtig erscheint mir hier die Diskussion der Pränatalen Diagnostik, die in der Schweiz zu Volksabstimmungen geführt hat.  

Hilfreich ist die Synopse der bestehenden integrations- bzw. inklusionskritischen Literatur, in die sich die Schrift des Autors einfügt. Sie gibt einen Überblick über die aktuelle Diskussion, leuchtet die entsprechenden Positionen differenziert aus und ordnet die aus der Praxis beschriebene Problematik in die entsprechenden (heil-)pädagogischen, psychologischen, philosophischen und bildungspolitischen Hintergründe ein. Der Autor bleibt schließlich nicht bei der Kritik der Integrations- bzw. Inklusionsbewegung stehen, sondern entwickelt Lösungsansätze, die den Bedürfnissen aller gerecht werden könnten und die Menschenwürde als conditio sine qua non zur Grundlage hat.  

Es ist ein mutiges Buch, das mit der nötigen Sorgfalt und tiefer Fachkenntnis die Frage der Integration/ Inklusion diskutiert. Es greift wichtige und bisher noch wenig diskutierte Fragestellungen auf und beleuchtet sie nicht nur aus (heil-)pädagogischer und gesellschaftspolitischer Sicht, sondern speziell auch aus ethischer und philosophischer Perspektive, was man in vergleichbaren Publikationen kaum findet. Obwohl der Autor selten empirisches Material beibringt, sind seine Schlussfolgerungen logisch und aussagekräftig. Eine spezielle Stärke des Buchs ist die gelungene Verbindung von Praxis und Theorie. Damit ist auch eine Leserschaft angesprochen, die mit der bereits vorhandenen Literatur nur schwer erreicht wird. Der Autor bezieht sich in seinen Darlegungen zur Integration auch auf die Situation der Schweiz, was in der bisher vorhandenen integrations-/inklusionskritischen Literatur kaum der Fall ist. Dem Buch, das die Thematik Integration/Inklusion breit und differenziert ausleuchtet, ist eine weite Verbreitung zu wünschen.  

Eliane Perret

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