Diese Seite verwendet Cookies. Mit der Benutzung der Seite stimmen Sie der Verwendung von Cookies zu und akzeptieren unsere Datenschutzerklärung.
Inklusion im Politikunterricht
Fischer, C. (2020). Frankfurt: Wochenschau-Verlag. ISBN: 978-3734409479.

In demokratisch verfassten Gemeinwesen wie der Bundesrepublik Deutschland ist politische Bildung für alle Mitglieder der Anspruch. In Bezug auf Lernende im Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung steht die sonder- bzw. inklusionspädagogische und auch fachdidaktische Auseinandersetzung mit Fragen politischer Bildung jedoch noch am Anfang. Folglich stellt Christian Fischer in seinem Buch „Inklusion im Politikunterricht“ die grundsätzliche Frage nach der Denk- und Umsetzbarkeit von Politikunterricht mit inklusivem Anspruch. Der Autor ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Erfurt und führt im Rahmen seiner Praxis- und Aktionsforschung Unterrichtsprojekte an einer inklusiven freien Gemeinschaftsschule in Halle (Saale) durch.

Im Buch erarbeitet Fischer Perspektiven und Einsichten zu Inklusion im Politikunterricht anhand eines konkreten Falls aus der eigenen Unterrichtspraxis. Zielgruppen des Buchs sind „Studierende, Lehrkräfte, angehende Lehrkräfte im Vorbereitungsdienst sowie an Didaktikerinnen und Didaktiker“ (S. 10). Während der Autor in Kapitel 1 vor allem die aktuelle politikdidaktische Diskussion zu Inklusion in Schlaglichtern nachzeichnet und daraufhin die Idee des Buchs erläutert, wird jener o.a. konkrete Fall aus der Unterrichtspraxis („Der Fall Friedemann“) in Kapitel 2 eingehend vorgestellt: Bei Friedemann handelt sich um einen 16-jährigen Jungen mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf im Bereich der Geistigen Entwicklung, der eine zehnte Klasse der inklusiven freien Gemeinschaftsschule besucht, im Unterricht auch noch individuelle Unterstützung von einem weiteren „Pädagogen“ (S. 47) bekommt und „in den vergangenen Schuljahren bereits an mehreren Unterrichtsreihen im Fach Sozialkunde mit Interesse und Freude teilgenommen“ (S.11) hat. Auch wird z.B. berichtet, dass Friedemann „vergleichsweise langsam“ liest und ein Textverständnis habe, „das nur die wörtliche, konkrete Sinnebene des Sprachmaterials betrifft“ (S. 11). Die Unterrichtsreihe derweil, innerhalb derer Friedemanns Lernweg von Fischer an ausgewählten Stellen beleuchtet wird, besteht in einer umfassenden didaktischen Konzeption zu „Demokratie und Wahlen“ und erstreckt sich über zehn Doppelstunden.

Fischer legt sein gewähltes didaktisch-methodisches Vorgehen in der Reihe aus politikdidaktischer Sicht schlüssig dar. Auf dieser politikdidaktischen Folie unternimmt er schließlich eine erste versuchsweise Deutung des Lernwegs von Friedemann: Der Autor hält fest, dass es schon zu Beginn der durchgeführten Reihe zu einer Überforderung Friedemanns gekommen sei. Aus einer (bewusst enggeführten) „politikdidaktisch-normativen Perspektive“ (S. 24) erscheinen Fischer Verlauf und Ergebnis des Unterrichts in Bezug auf Friedemann (zunächst) als Unterminierung leitender fachlicher und fachdidaktischer Ansprüche. Bei der überwiegenden Mehrheit der Mitschülerinnen und -schüler sei die unterrichtliche Intention allerdings sehr wohl aufgegangen (S. 25).

Eine entscheidende Wendung nimmt Fischers Auseinandersetzung mit dem Fall Friedemann in Kapitel 3, das nunmehr „weiterführende“ (S. 10) bzw. „erweiterte“ (S. 26) Lesarten des Falls Friedemann offeriert. Diese Lesarten erfolgen auf Basis einschlägiger überfachlicher bzw. allgemein inklusionsdidaktischer Ansätze (Feuser, Seitz, Wocken, Prengel). Demnach erreiche Friedemann mit seiner individuellen Lernausgangslage sehr wohl einen (auch fachdidaktisch anerkennenswerten) Zugang zum gemeinsamen Thema, der im Unterricht Raum bekommen und dessen „Bereicherungsgehalt für den gemeinsamen Lernprozess im Unterricht deutlich“ (S. 31) gemacht werden sollte. Fischer arbeitet aus der jetzt systematisch eingenommenen „erweiterten Perspektive“ heraus, dass auf dem von ihm eingeschlagenen didaktisch-methodischem Wege bestehende inklusionsdidaktische Spielräume der Öffnung für die Verstehens- und Lernvoraussetzungen sowie -chancen Friedemanns nicht genutzt worden seien. Fischers hier ansetzende Überlegungen zu „alternativen Gestaltungsmöglichkeiten für den konkreten Unterricht“ (S. 5) sind ausgesprochen gedankenreich, konstruktiv und daher besonders hervorzuheben. Während Kapitel 4 noch einen zweiten Ausschnitt aus dem Fall Friedemann enthält und diesen analytisch durchdringt, erfolgt in Kapitel 5 eine Schlussbetrachtung des Autors.

Die sorgfältig vorgenommenen und geschickt in Szene gesetzten didaktischen Orientierungsversuche im Kontext von politischer Fachdidaktik und Inklusion sind ein Verdienst des Autors. Christian Fischer betont, dass sein fallorientiertes Vorgehen im Buch „exemplarisch“ (S. 12) ist: „Jeder neue Fall wird neue Herausforderungen und Deutungsnotwendigkeiten mit sich bringen“ (S. 59). Aus Sicht des Rezensenten wäre über die so markierte Spezifik des Falls Friedemann hinaus etwa zu fragen, welche Anknüpfungspunkte das diskutierte politische Lehr-Lern-Arrangement für weitere Lernende im Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung bereithalten könnte, die im Gegensatz zu Friedemann bspw. zur Lektüre von kurzen schriftlichen Texten (noch) nicht in der Lage sind und/oder kognitiv ggf. einen noch umfassenderen Unterstützungsbedarf haben.

Fischers Ansatz, neben Momenten, Praktiken und Faktoren gelingender auch diejenigen nicht gelingender Inklusion authentisch offenzulegen und kontrovers zu diskutieren, ist ertrag- und lehrreich – die systematisch fortschreitende Erschließung des Falls im Buch bietet nicht nur Lehrkräften in inklusiven Settings, sondern auch Lehrkräften an Förderschulen mit dem Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung vielfältige Anstöße, politikfachdidaktisch fundiert bzw. überhaupt politische Themen zu unterrichten. Ohne seine Herausforderungen und möglichen Grenzen zu verschweigen, demonstriert das Buch, dass guter inklusiver Politikunterricht in Orientierung an politikdidaktischen Unterrichtsprinzipien, Methoden und Verfahren möglich ist. So sind dem Buch viele Leserinnen und Leser zu wünschen.

Johannes Jöhnck

zurück