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Handbuch Förderschwerpunkt geistige Entwicklung
Schäfer, H. (2019). Weinheim: Beltz. ISBN: 978-3-407-25800-7

Nimmt man das Handbuch mit 710 Seiten im wörtlichen Sinne in die Hand, fühlt man sich vom Umfang und der Schwere des Bands möglicherweise zunächst erschlagen. Das Lesen wird jedoch durch eine Gliederung in viele Kapitel im Umfang von durchschnittlich zehn Seiten, die durchaus unabhängig voneinander je nach aktuellem Interesse und Zeitbudget gelesen werden können, erleichtert. Außerdem zeichnet sich das Buch durch eine verständliche Sprache aus. So bietet es eine gute Möglichkeit, in vielen verschiedenen Bereichen neue Informationen und Anregungen zu erhalten. Angesichts der Fülle kurzer Einzelartikel kann natürlich nicht erwartet werden, dass in jedem Teilgebiet ein umfangreiches Wissen vermittelt wird. Es kann vielmehr nur exemplarisch vorgegangen werden. Manche Artikel sind allerdings angesichts ihrer Kürze, vereinzelt auch Einseitigkeit, nur ein erster Ansatz, sich mit der -jeweiligen Thematik näher zu beschäftigen.

Dieses Handbuch vereinigt Beiträge aus einem so breiten Spektrum der Geistigbehindertenpädagogik, dass sich selbst ein renommierter Experte wie Andreas Fröhlich im von ihm verfassten Vorwort nicht in der Lage sieht, diese Artikel angesichts seiner eingeschränkten Kompetenz zu beurteilen. Sicherlich kommt hier eine sympathische Bescheidenheit zum Ausdruck, aber -indirekt wird dadurch auch das Besondere dieses Buchs deutlich. Viele verschiedene Autoren mit ihrem spezifischen Wissen, ihrer Erfahrung und ihrem Blickwinkel haben einen Beitrag zu diesem Werk geleistet. Dabei handelt es sich einerseits um anerkannte Professoren und Mitarbeiter an Universitäten (K. Bundschuh, E. Fischer, R. Zimmer u.a.) mit verschiedenen sonderpädagogischen Forschungsgebieten, andererseits aber auch um Praktiker mit spezifischem Fachwissen und täglicher Erfahrung. So ist zunächst der Herausgeber und (Mit-)Autor zahlreicher Beiträge, Holger Schäfer, anzuführen, promovierter Sonderpädagoge und Schulleiter -einer Schule mit Schwerpunkt ganzheitliche Entwicklung. Weiterhin gibt es mehrere Beiträge von aktiven Lehrern an Schulen, in deren Artikel ihre praktische Erfahrung einfließt. Auch Psychologen mit spezifischem Schwerpunkt (u.a. Team Autismus Mainz) beteiligen sich mit -ihrer Expertise. Die Beiträge stammen aus Deutschland, Österreich, der Schweiz und Luxemburg und erlauben damit einen gewissen Blick über die Grenzen hinaus. Spezifische Besonderheiten werden allerdings nicht explizit thematisiert. Auch fehlt die weitere europäische und amerikanische Perspektive, wie sie etwa beim Handbuch der „Pädagogik bei geistigen Behinderungen“ von 2006 (Hrsg. Wüllenberger, Theunissen, Mühl) vorhanden ist.

Das Handbuch gliedert sich in vier große Teile: Grundlagen, Spezifika, Fachorientierung und Lernfelder. Der erste Teil widmet sich zunächst Grundlegendem wie der Beschreibung des Personenkreises, ethischen und bildungstheoretischen Leitlinien, der Didaktik, der Methodik, der Förderdiagnostik sowie Forschungsentwicklungen und -desideraten. Grundsätzliches zur Gestaltung von inklusiver Beschulung wird knapp, aber durchaus mit eigener Akzentuierung, angeschnitten. Im zweiten Teil werden Beiträge zu Besonderheiten des Förderschwerpunkts Geistige Entwicklung aufgezeigt mit -einem deutlichen quantitativen Schwerpunkt auf Beiträgen zur Förderung bei schwerster Behinderung, bei psychoemotionalen Auffälligkeiten sowie bei kommunikativen Einschränkungen. Im dritten Teil -werden dann verschiedene Schulfächer und ihre spezifische Ausgestaltung zur Förderung von Schülern im Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung dargestellt. Im letzten Teil werden verschiedene „Lernfelder“ dargestellt. Damit meint der Herausgeber verschiedene Bereiche, die im Fächerkanon der Allgemeinen Schule fehlen, aber gleichwohl als Bildungsinhalte von großer Bedeutung für die Schüler mit dem Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung sind (z.B. Selbstversorgung).

Neben den vielen interessanten Einzelinformationen dieses Buchs wird ein übergreifender -Duktus des Buchs deutlich. Dem Herausgeber geht es darum, dass Schüler mit dem Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung nicht zusätzlich dadurch behindert werden, dass ihnen relevante Lerninhalte vorenthalten werden, nur weil Pädagogen denken, diese wären zu anspruchsvoll für sie. Dass der Herausgeber dies im Sinn hat, zeigt sich etwa daran, dass er neben den heute klassischen Fächern Deutsch, Mathematik, Sachunterricht, Musik, Kunst, Religion und Sport auch Artikel zu bisher eher randständigen fachlichen Angeboten in Förderschulen mit dem Schwerpunkt Geistige Entwicklung etwa zu Geografie, naturwissenschaftlicher Perspektive im Sachunterricht und Geschichte (Beitrag von H. Schäfer) in sein Handbuch aufnimmt. Zusätzlich macht H. Schäfer deutlich, dass selbst in einem etablierten Fach, wie dies zwischenzeitlich für die Mathematik der Fall ist, einige fachliche Aspekte im Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung ungerechtfertigterweise ausgeblendet werden. Dies gilt etwa für die Geometrie und den Umgang mit Daten. Besonders kritisiert er das an einigen Schulen noch übliche Vorenthalten der Numerik zugunsten einer Pränumerik, die fälschlicherweise als unabdingbare Vorfähigkeit -angesehen wird. Auch bei den Lernfeldern nimmt der Herausgeber neben Artikeln zu klassischen Lerninhalten wie Selbstversorgung, Mobilitätserziehung, Wohnen und Freizeitbildung auch Beiträge zu demokratiepädagogischer Grundbildung und Bildung nachhaltiger Entwicklung auf, die -bisher im klassischen Bildungskanon der Förderschule mit dem Schwerpunkt Geistige Entwicklung wohl eher fehlen, aber dennoch für die gesellschaftliche Teilhabe der Schüler wichtig sind. Die Erweiterung des teilweise verengten Blicks der Geistigbehindertenpädagogik kann, nach Ansicht H. Schäfers, durch den Dialog mit den verschiedenen Fachdidaktiken erreicht werden, weshalb dieser weiterhin ausgebaut werden sollte.

Dieses Handbuch ist sicherlich gleichermaßen für Studierende, Berufsanfänger und Kollegen mit -langer Praxiserfahrung als Lektüre geeignet, weil es einerseits einen knappen, aber sehr weit gefächerten Einblick in bewährtes Wissen vermittelt, andererseits aber auch gewinnbringende neue Impulse setzt, so dass auch erfahrene Lehrkräfte neue Anregungen erhalten.

Petra Surall

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