Wenn zwei der großen Alten der Geistigbehindertenpädagogik sich zu einer Veröffentlichung zusammenfinden, ist die Neugierde geweckt. Gerhard Neuhäuser und Ferdinand Klein, die zusammen weit mehr als 100 Jahre zum Wohl von Menschen mit Assistenzbedarf geforscht und praktisch gearbeitet haben, legen uns in diesem Buch sowohl ihre Erkenntnisse als auch die philosophischen Grundlagen ihrer Arbeit ans Herz.
Dabei wählen sie eine Sprache, die man versteht. Keine wissenschaftlich verschwurbelten Aussagen, keine theoretischen Konstrukte, die man sich erst erarbeiten muss. „Wir versuchen die eigene Position authentisch darzustellen, Kompliziertes ohne aktuellen Fachjargon einfach auszudrücken. Dabei folgen wir dem Erkenntnistheoretiker Karl Popper, der gegen die Zunftsprache der Wissenschaftler zu Felde zog“ (S. 13). Das Werk kann sich an diesem Anspruch messen lassen; es ist im allerbesten Sinne des Wortes ein Lesebuch, wenn auch ein fachwissenschaftliches.
Studierende eines Masterstudiengangs Inklusion an der Mannheimer Hochschule, denen ich Auszüge aus dem Buch vorlegte, bestätigten meinen Eindruck. Mit Hilfe des Kapitels „Unverwundbarer Geist“ (S. 125f.) konnten sie sich das Konstrukt geistig behindert als solches sehr gut erarbeiten. Warum verwenden die Autoren im Titel und durchgehend im Text einen Begriff, der sofort den fachlichen Widerspruchsgeist weckt, therapeutische Erziehung? „Wir weisen mit dem Begriff therapeutische Erziehung darauf hin, dass Erziehung und Bildung die Entwicklung des Kindes als leiblich-seelisch-geistige Ganzheit wahrnimmt und in seiner unverwechselbaren Individualität achtet“. Diese programmatische Aussage durchzieht das gesamte Werk, weshalb die theoretischen Überlegungen immer wieder mit Fallbeispielen unterlegt werden.
Zum Inhalt: Das Buch untergliedert sich in fünf Kapitel: Theorie und Praxis der therapeutischen Erziehung / Medizinisch orientierte Heilpädagogik / Diagnostische Voraussetzungen der therapeutischen Erziehung / Behandeln und Beraten bei der therapeutischen Erziehung / Handeln von Eltern und Fachkräften als therapeutische Erzieher.
Man wird als Leser zunächst an die Ursprünge der Heilpädagogik herangeführt. Welche Menschen brauchen Heilpädagogik? Es wird von Martin berichtet, der einen dramatischen Einstieg in sein Erden-leben hatte, dessen Begleitung „ein Wagnis zwischen Gelingen und Misslingen“ darstellt. Große Namen wie Moor, Korczak, Scheiblauer, Montessori, u.v.m. werden zu Rate gezogen, um „pädagogischen Grundsituationen“ nach zu spüren. Das eigene diagnostische Wissen kann die Leserin in den medizinischen Kapiteln begründen bzw. auffrischen. Auf 40 Seiten gelingt es den Autoren komplizierte Sachverhalte verständlich darzustellen, gleichzeitig aber wesentliche Grundlagen zu vermitteln. Wie sehr Medizin und (Heil-)Pädagogik zum Wohl der Kinder auf einander angewiesen sind und daher zusammenwirken sollten, wird aus folgender Bemerkung deutlich: „Die alte Debatte um die Bedeutung von Anlage und Umwelt, (nature or nurture), kann heute als entschieden betrachtet werden: Immer ist von einem Wechselspiel auszugehen, wobei die einzelnen Komponenten unterschiedlich gewichtet sein können. So spielt bei Kindern mit Down-Syndrom die veränderte Chromosomenkonstitution eine wichtige Rolle für die Ausbildung der körperlichen Eigenheiten sowie von kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten. Gerade diese werden aber auch stark von Umwelteinflüssen mitbestimmt und sind durch heilpädagogische Maßnahmen gut zu beeinflussen“ (S. 54). Im Kapitel zum Behandeln und Beraten werden Konzepte, Maßnahmen und Therapien vorgestellt. Dabei präferieren die Autoren keineswegs Funktionales; vielmehr begründen sie „Behandlungen“ so: „Wesentliches Kriterium sollte sein, dass die Eigenaktivität des Kindes unterstützt, seine Autonomie beachtet und sein Selbstwertgefühl bestärkt wird“. Das Buch endet mit einem deutlichen Praxisbezug: „Jedes Kind auf seinem Entwicklungsweg leiten und unterstützen“.
Dem Verlag muss man danken, dass er das Buch in derart schöner Weise gestaltet hat. Dies stellt nicht nur einen ästhetischen Aspekt dar, man kann sich eben auch an den farblich differenziert gestalteten Linierungen orientieren. Auch die abgedruckten Fotos sind anregend.
Dieses Werk von Klein und Neuhäuser ist ein Muss in den Händen aller Studierender der Sonder-, Heil- oder Behindertenpädagogik. Es kann aber auch genauso wertvolle Dienste in den Ausbildungen von Erzieherinnen und Erziehern, sowie von Heilerziehungspflegerinnen und -pflegern leisten. In entsprechende Bibliotheken gehört es allemal.
Götz Kaschubowski
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