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Dilemma Inklusion
Speck, O. (2019). München: Reinhardt. ISBN 978-3-497-02891-7

Otto Speck unterzieht in seiner Veröffentlichung zehn Jahre schulischer Inklusion einer Zwischenbilanz. Er untertitelt sein Buch mit der grundlegenden Frage: Wie Schule allen Kindern gerecht werden kann. Seine Antwort ist so einfach wie anspruchsvoll: durch Vielfalt.

Wie begründet er seine Position aus der Perspektive seines (seit den 1970er Jahren) jahrzehntelangen Mitgestaltens in der Frage der besonderen Förderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder und Jugendlicher? In vier Kapiteln legt er eine Grundlegung für seine Position eines dual-inklusiven Schulmodells.

In Kapitel 1 und 2 erfolgt eine historische und begriffsklärende Einordnung zu Integration und Inklusion. Hier wird noch einmal auf die wegweisenden Empfehlungen des Deutschen Bildungsrats aus dem Jahr 1973 hingewiesen. Ein erster – aber leider überhörter – Inklusionsansatz. Diese frühe und höchst sachangemessene Befürwortung von Integration konnte sich nur zögernd Geltung verschaffen. In der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention durch das im Dezember 2008 vom Bundestag verabschiedete Inklusionsgesetz zeigten sich nach Specks Einschätzung vor allem zwei bedenkliche Entwicklungen. Zum einen entwickelte sich – neben den gesetzlichen Regelungen in Richtung einer Vollinklusion an den Allgemeinen Schulen – ein unterschwelliger Diskriminierungs- und Separierungsvorwurf gegenüber den Förderschulen. Zum anderen etablierten sich durch unterschiedliche Übersetzungen und Interpretationen der UN-Konvention Positionen in Richtung einer Abschaffung der speziellen Förderschulen. Diese Positionen sind aber – wie Speck nachvollziehbar herleitet – nicht begründet. Förderschulen sind strukturell Bestandteile des allgemeinen Schulsystems und erfüllen mit ihrem besonderen und begründbaren Auftrag und ihrer fachlichen Kompetenz ebenfalls – wie die inklusive Allgemeine Schule – für behinderte Kinder und Jugendliche die Umsetzung des Menschenrechts auf Bildung. Vor dem Hintergrund dieser Leitargumentation erweitert Speck seinen vor allem von dem sonderpädagogischen Förderbedarf des Kindes ausgehenden Blick auf zwei Modelle des gemein samen Unterrichts (Evangelisches Förderzentrum Greifswald und das Rügener Inklusionsmodell).

In seinen weiteren Differenzierungen in Kapitel 3 skizziert Speck die grundlegenden Dilemmata schulischer Inklusion. Hier bezieht er sich auf die Dilemmaforschung des Briten Norwich. Er beleuchtet diese vor allem in ihrer jeweiligen und innewohnenden Ambivalenz (z.B. Curriculum-Dilemma; Leistungsdilemma; bedeutet „nur dabei sein“ schon soziale Teilhabe? Spezielle Förderung in Förderschulen vs. dem Gefühl des Ausgeschlossen-Seins). Mit dieser Diktion und Argumentation gelingt es Speck, einen neuen – vor allem die Ambiguität des Problems der Inklusion aushaltenden – erweiternden Blick zu vermitteln. In die polarisierte und ideologisch vertunnelte Diskussion öffnet er immer wieder den Blick auf das Kind mit Behinderung. An welchem (Bildungs-) Ort kann es sich am besten entwickeln? Seine Antwort lautet: In einem Bildungssystem, welches das einzelne Kind, seinen einzelnen besonderen Förderbedarf und auch die einzelne Perspektive der Eltern berücksichtigt. Dieser Blick muss Vielfalt ermöglichen und aushalten. Hier würde man sich von Buch und von Qualitativer Forschung mehr Erkenntnisse über die Lebensbiografie der Kinder und Jugendlichen wünschen. Wie schlagen sich im Rückblick die Erfahrungen einer inklusiven Beschulung in einer Allgemeinen Schule bzw. die schulischen Erfahrungen am besonderen Bildungsort einer Förderschule im Selbstkonzept von Erwachsenen nieder?

Im vierten Kapitel entwickelt Otto Speck die Grundzüge eines dual-inklusiven Schulsystems. Hier sieht er das System der Allgemeinen Schule optional priorisiert gegenüber den Förderschulen. Diese haben aber weiterhin ihren berechtigten und im Sinne des Wortes notwendigen Platz. Sie leisten genauso, aber eben auch anders, wertvolle und damit vollwertige Arbeit. Unter der Maxime „so viel Gemeinsamkeit als möglich und sinnvoll und so wenig Besonderung als unbedingt nötig“ wird es nach Speck im Einzelfall jedes Kindes um die Balance zwischen diesen Lösungsmöglichkeiten gehen müssen. Dies alles ist nicht grundlegend neu. Neu ist aber der fundierte ideologiefreie und nachdenkliche Sprach- und Argumentationsfluss. Neu ist vielleicht auch, dass Speck in seinen Argumentationslinien der Förderschule – und damit auch den in ihr arbeitenden und lernenden Menschen – etwas von ihrer Würde und Berechtigung zurückgibt. Förderschule als ein besonderer Bildungsort, der in manchen Phasen der behinderten kindlichen und jugendlichen Entwicklung Teilhabe und Inklusion erst möglich macht. Ein Buch mit gut aufgebautem Sachregister, das in die Lehrerbibliothek jeder Förderschule und jeder inklusiven Allgemeinen Schule gehört.

Wilfried Bröckelmann

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