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Internationale Ansätze zur schulischen Inklusion
Leonhardt, A. & Pospischil, M. (2018). ISBN 978-3-7815-2224-4. Bad Heilbrunn: Klinkhardt

Vergleichbare, aber auch sehr unterschiedliche Auffassungen über die Konzeptionierung und die Ausgestaltung der schulischen Inklusion und die Betrachtung der jeweiligen Rahmenbedingungen können Anregungen für die weitere Umsetzung der inklusiven Bildung in der zweiten Dekade des Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen geben.

Annette Leonhardt und Melanie Pospischil vom Lehrstuhl für Gehörlosen- und Schwerhörigenpädagogik an der LMU München haben angesichts der weltweiten Entwicklungen und vielfältiger internationaler Forschungsprojekte in diesem Prozess eine Ringvorlesung mit Fachleuten aus dem In- und Ausland durchgeführt. Deren Vorträge sind in diesem Sammelband zusammengefasst.

Der Band mit seinen zwölf durchweg lesenswerten Beiträgen ist dem Bereich der international Vergleichenden Sonder- oder Heilpädagogik zugeordnet. Die vier Kapitel zeigen den weiten interkulturellen Bogen der Beiträge auf: Ein Grundsatzbeitrag von Annette Leonhardt zur schulischen Inklusion aus nationaler und internationaler Sicht, die Betrachtung des Index of Inclusion insbesondere mit dem Ausgang von der engen Verknüpfung von Werten mit der Inklusion (nach Booth) als Instrument auf dem Weg zur Inklusion von Melanie Pospischil, Schulische Inklusion in Europa: Deutschland (Asmussen, Ahrbeck), Österreich (Biewer), Slowakei (Miškolei), Russland (Nazarova), schulische Inklusion in Entwicklungsländern: Nepal, (Kafke) Äthiopien u.a. (Tirussew) sowie Schulische Inklusion in außereuropäischen Ländern: Japan (Miyauchi), USA (Felder).

Neben der Sicht der an Hochschulen Forschenden und Lehrenden sind Autoren aus der Bildungsverwaltung und aus regierungsunabhängigen Organisationen vertreten (Sönke Asmussen orientiert über Sichtweisen der Kultusministerkonferenz, Sigrid Arnade setzt sich mit dem Thema „Inklusion als Menschenrecht … und wie sie verhindert wird“ im Anschluss an ein lesenswertes Kapitel von Bernd Ahrbeck auseinander: „Inklusion als Menschenrecht?“

In den Berichten zur Umsetzung der schulischen Inklusion in den Ländern wird eine Fülle von Aspekten ausgebreitet: das Verständnis von Inklusion, der Stand der Inklusion im jeweiligen Land, der Umgang mit Diversität, förderliche und hemmende Faktoren der Umsetzung, politische und administrative Dimensionen, Inhalte und Formen der Lehrerbildung, gesetzliche Grundlagen, die Rolle der Eltern, diagnostische Verfahren, Zuweisung von Ressourcen zur Unterstützung, die Zusammenarbeit von Lehrkräften mit unterschiedlichen Lehrämtern und manches andere kommen in den Blick. Insbesondere werden die Möglichkeiten und Grenzen der inklusiven Bildung teilweise sehr unterschiedlich eingeschätzt – das fordert zu Zustimmung oder Widerspruch heraus. Bei der Zusammenschau werden die Vielfalt der Konzepte und deren Realisierungen ebenso deutlich wie die unterschiedlichen Auslegungen und Ausprägungen des Begriffs der Inklusion und die Haltung der Autorinnen und Autoren in diesem Entwicklungsgeschehen. Die Herausgeberinnen ziehen als Fazit der Synopse, dass sich die Idee der inklusiven Erziehung (Bildung) weltweit etabliert hat. Es kann ihrer Einschätzung zugestimmt werden, dass die Umsetzungen sehr verschieden verlaufen. Nicht zuletzt ist das oft dem unterschiedlichen Verständnis von Inklusion geschuldet.

Schließlich ist auf das Anliegen des Buchs zu verweisen, die Förderschwerpunkte in den Blick zu rücken, die insbesondere mit rehabilitativen und therapeutischen Aufträgen verbunden sind. Damit wird die Frage nach der Passung und Angemessenheit der Unterstützungen für die Schülerinnen und Schüler gestellt. Annette Leonhardt bezieht klar Stellung: „Die allgemeinen Schulen können dies nicht prozess- und unterrichtsimmanent leisten. Sie haben einen anderen Bildungsauftrag und es fehlt vor Ort an qualifiziertem Fachpersonal“, um allen Schülern mit sehr unterschiedlichen Förderbedarfen gerecht zu werden (S. 12). Die veröffentlichten Tabellen mit den Prozentangaben zu den Schülerinnen und Schülern in Förderschulen oder in der Integration/Inklusion von 2007/08 und 2015/16 relativieren diese Aussage allerdings. Aber die Frage nach dem professionellen Umgang mit verschiedenen Personenkreisen mit erheblichem Bedarf an Unterstützung ist gewiss dringend weiter zu diskutieren. Noch dezidierter ist die Aussage aus einer spezifischen Perspektive (Annette Leonhardt): „Aus der Sicht eines Wissenschaftlers, der eine hochspezialisierte Fachrichtung vertritt, wird die Diskussion um inklusive Erziehung weltweit nicht ausreichend differenziert geführt“ (S. 30). Nataliya Nazarova teilt in diesem Zusammenhang die Beobachtung mit, dass die meisten Eltern ihr Kind in der inklusiven allgemeinen Schule anmelden, „ohne jedoch zu prüfen, ob dort die Bildungsbedingungen für ihr Kind gewährleistet sind“ (S. 122). Die angemessene Unterstützung von Schülerinnen und Schülern mit einem Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung in der inklusiven Schule ist auch hierzulande nicht durchgängig gewährleistet.

Die Unterschiedlichkeit der Beiträge dieses Sammelbands könnte kaum größer sein. Dies bezieht sich insbesondere auf den großen Kontrast in den gesellschaftlichen Bedingungen für Bildung zwischen den europäischen und den Entwicklungsländern. In der gesellschaftlichen Auseinandersetzung in unserem Land sollte man sich auch der vielen Millionen Kinder bewusst sein, die in anderen Ländern keine Schule besuchen und sich vielfach in prekären und extremen Lebenssituationen befinden (S. 142). Das hilft nicht den Betroffenen, könnte uns aber bescheidener und rücksichtsvoller machen.

Wohltuend ist die Schlussaussage Nataliya Nazarovas im Hinblick auf den Entwicklungsprozess der inklusiven Bildung in ihrem Land: „Wir haben erkannt, dass dieser Prozess andauern kann und schwierig sein wird, besonders unter den Bedingungen der weltweiten Wirtschaftskrise, aber wir werden vom Weg der Demokratisierung und Humanisierung der Bildung für Menschen mit Behinderung nicht abrücken“ (S. 133). Dass für diesen Weg ein langer Atem gebraucht wird, der durch eine Vielzahl gesetzgeberischer Aktivitäten unterschiedlichster politischer Mehrheiten charakterisiert ist, zeigt der sehr informative und spannende Bericht von Marion Felder über die mehr als vierzigjährige wechselvolle Geschichte der Integration bzw. Inklusion in den USA auf. Ein sehr interessanter Aspekt ist dabei die verpflichtende Fortbildung der Lehrkräfte. Marion Felders Feststellung: „Diese gesetzlichen Regelungen erwiesen sich als sehr mächtiges Instrument zur Entwicklung von Inklusion“ (S. 193) und lässt den Rezensenten fragen: Sollten wir in Deutschland angesichts stellenweise immer noch verharrenden oder nachlassenden bildungspolitischen Bemühens über den Einsatz ähnlicher Instrumente nachdenken?

Die Herausgeberinnen Annette Leonhardt und Melanie Pospischil haben mit der Publikation der Ringvorlesung bedeutsame Impulse für die inklusive Schulentwicklung zugänglich gemacht und damit die Debatte bereichert. Peter Wachtel

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