Eine Veröffentlichung darüber, wie Kinder und Jugendliche mit kognitiven Beeinträchtigungen lernen – gemeint und offen benannt werden hier solche, die im traditionellen Sprachgebrauch als „geistig behindert“ oder „lernbehindert“ eingestuft werden – überrascht zunächst. Zum einen, weil es heute in der heilpädagogischen Diskussion im Kontext von Leitideen, Selbstbestimmung, Inklusion oder Teilhabe in aktuellen Veröffentlichungen allzu häufi g um ganz andere Dinge bzw. Fragen geht, und zum anderen weil diese Publikation nicht von zwei Psychologen stammt, sondern von zwei Kollegen, die sich bislang als Heilpädagogen vor allem didaktischen Fragen gewidmet hatten. Hans-Jürgen Pitsch hat, bevor er in Luxemburg in der Lehrerausbildung tätig war, viele Jahre an einer Schule für Geistigbehinderte im Saarland gearbeitet bzw. eine solche geleitet, kennt also bestens die schulische Praxis und den Personenkreis, und ist vielen Lehrpersonen und Studierenden durch eine Reihe von Publikationen bekannt, in denen es basierend auf Grundlagen einer materialistischen Behindertenpädagogik und der kulturhistorischen Schule wie auch der Lern und Entwicklungspsychologie von Jean Piaget oder Hans Aebli um die „Entwicklung von Tätigkeit und Handeln Geistigbehinderter“, um Handeln im Unterricht bzw. breiter gefasst um Methoden der didaktischen Vermittlung durch Lehrpersonen und des Lernens durch die Schüler geht. Arthur Limbach-Reich arbeitete nach dem Diplom in Pädagogik und Psychologie über 10 Jahre mit Menschen mit besonderem pädagogischen Förderbedarf und mit Menschen mit Schwerstmehrfachbehinderungen, als Lehrkraft und Dozent an der nationalen Ausbildungsstätte für Erzieher und Sozialpädagogen und später an der Universität in Luxemburg, mit Schwerpunkten auf Prozessen der Exklusion und Inklusion und Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention.
Inhaltich geht es in der vorliegenden Publikation zunächst um den gemeinten Personenkreis, um dann ausführlich Grundlagen von Kognition und menschlicher Erkenntnis, Gedächtnis und dessen Entwicklung auch im Kontext kognitiver Beeinträchtigung zusammen zu tragen. Der Leser wird über Aspekte kindlicher Wahrnehmung und über sensorische Gedächtnisleistungen informiert, einschließlich wie solche gefördert werden können. Hierzu werden spezifische Aspekte des Kurzzeitgedächtnisses (KZG) und Arbeitsgedächtnisses (AG), sowie Strategien zum Behalten, Organisations- und Elaborationsstrategien und damit die Arbeitsweise des Langzeitgedächtnis (LZG) dargestellt. Die grundlegende Darstellung mündet in didaktischen und methodischen Aspekten der Förderung der Erinnerung und Vermittlung nützlicher Lernstrategien. Nicht alle, sondern eher praxisrelevante Forschungsergebnisse konnten, wie die beiden Autoren einräumen, einbezogen werden, einige Beiträge aber werden schon vermisst, z.B. aus dem Bereich Geistigbehindertenpädagogik solche peer-review basierten Beiträge von Christoph Ratz zum Leselernen oder zu mathematischen Kompetenzen.
Warum ist diese Publikation so wichtig, gerade in der heutigen Zeit? Weil Fragen und Aspekte des Lernens, wie sich Kinder und Jugendliche – ausgehend von ihren individuellen Bedürfnissen bzw. Bedarfslagen in einem bio-psycho-sozialen Verständnis mit ihrer (Um-)Welt und deren Dingen und sozialen Phänomenen auseinandersetzten, für eine erfolgreiche Unterrichtsgestaltung höchst bedeutsam sind. Und weil Lehrpersonen, ob sie nun in inklusiven oder separierenden Organisationsformen – möglichst in einer wenig sozial einschränkenden Umgebung – darüber informiert sein müssen, wie die ihnen anvertrauten Schüler sich am besten das aneignen können, was sie wissen wollen und für ihr Leben brauchen; dies ist Voraussetzung, dass sie, die Lehrpersonen, die Lernumgebungen bedarfsgerecht gestalten und durch ihre Art des Lehrens eine individuell passende Unterstützung im Aneignungsprozess der Schüler geben können. Dies hatte in der Geistigbehindertenpädagogik bereits Heinz Bach Ende der 1960er Jahre erkannt und in Ansätzen vorgelegt, zum Teil aber in einer eher allgemeinen, pauschalisierenden Form. Pitsch und Limbach-Reich konzipieren auch zu Recht in ihrem Buch nicht eine Anthropologie des Lernens von Kindern mit irgendwie gearteten kognitiven Beeinträchtigungen, tragen aber zahlreiche Fakten zusammen und beschreiben Zusammenhänge, die als Grundlage zum Verständnis von Beeinträchtigungen des Lernens und des Gedächtnisses von Kindern und Jugendlichen dienen können. Insofern ist das Buch wärmstens zu empfehlen, für Studierende, auch wegen der grafisch markierten Zusammenfassungen oder Begriffsdefinitionen, aber auch für Schulpraktiker, vor allem wegen der Abschnitte zu relevanten Fördermaßnahmen.
Erhard Fischer
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