Die beiden fachwissenschaftlich ausgewiesenen Autoren legen nun die 6. vollständig überarbeitete, aktualisierte und erweiterte Auflage des komplexen Fachs „Körperbehindertenpädagogik“ vor. Das Werk verdankt seine aktualisierte Bearbeitung auch Studierenden der Universität Köln, die ihre reflektierten Erfahrungen einbrachten. Diese vergleichsweise junge Disziplin der Pädagogik mit ihrem breiten Spektrum für das Handlungsfeld wird unter Einbezug ihrer Geschichte ausführlich dargestellt. Und der sich wandelnden Praxis, die vor allem auf die UN-Behindertenrechtskonvention und das Bundes- Teilhabe-Gesetz zurückgeht, wird besondere Aufmerksamkeit geschenkt.
In sechs Kapiteln – Grundpositionen (S. 11-98), Personengruppe und Förderbedürfnisse (S. 99-210), Entwicklungsbedingungen (S. 211-248), Pädagogische Förderung (S. 249-373), Zusammenarbeit mit den Eltern (S. 375-382), Professionalisierung und Selbstreflexion von Körperbehindertenpädagogen (S. 383-393) – wird differenziert den relevanten Fragen entsprochen. Leser und Leserinnen können nach und nach ein Verständnis für die individualisierte pädagogische Aufgabe entwickeln, ihr subjektorientiertes professionelles Handeln weiter (aus-)bilden, das „angesichts der Komplexität des Aufgabenfeldes nur unter Einbeziehung von Selbstreflexion des Körperbehindertenpädagogen gelingen kann“ (S. 393). Das wird im grundlegenden ersten Kapitel im systemisch-konstruktivistischen Denken differenziert dargestellt und in den folgenden Kapiteln für die pädagogische Förderung facettenreich reflektiert. Besonders im zweiten Kapitel wird die Personengruppe mit ihren spezifischen Förderbedürfnissen – unter Beachtung des revidierten ICF-Modells im Hinblick auf die Entwicklung der Körperfunktionen, Aktivitäten und sozialen Teilhabe – dargestellt. Damit wird der veränderten pädagogischen Praxis Rechnung getragen. Zwölf Erscheinungsformen werden vorgestellt. Es geht um Kinder mit cerebralen Bewegungsstörungen (1), körperbehinderte Kinder mit komplexen Kommunikationsstörungen (2), Kinder mit Spina Bifida (3), Kinder mit Hydrocephalus (4), Kinder mit komplexer Behinderung-Schwerstbehinderung (5), epilepsiekranke Kinder (6), chronisch kranke Kinder (7), progedient kranke Kinder (8), Kinder mit körperlichen Fehlbildungen (9) traumatisierte Kinder (10), Kinder im Autismus-Spektrum (11), Kinder mit Entwicklungsstörungen und AD(H)S (12). Diese Kinder und ihre spezifischen Förderbedürfnisse werden präzise praxisbezogen beschrieben. Wir finden sie im Grunde in allen Bildungseinrichtungen, auch an Hochschulen. Schon allein dieses Kapitel ist eine Fundgrube für das pädagogische Aufgabenfeld.
Die vorliegende Schrift antwortet auf umfassende Herausforderungen. Der Erziehungs- und Bildungsbegriff ist systemisch-konstruktivistisch verankert, achtet individualisiertes pädagogisches Unterstützen und strebt ein weitestmöglich selbstbestimmtes Leben in sozialer Interaktion an: Durch pädagogisches Handeln im Verständnis der systemisch-konstruktivistischen Wissenschaft, die Handlung als Kunst versteht und nicht dem Prinzip einfacher Kausalität folgt. Gefragt ist kreatives und empathisches Handeln des Pädagogen, der durch seine Haltung jene vorbereitete Lernumgebung schafft, die dem betroffenen Menschen seine subjektive Entwicklung in intersubjektiven Lern- und Handlungsfeldern ermöglicht.
Das Werk achtet eine weitestgehende Selbstbestimmung der betroffenen Menschen bis in alle Einzelheiten. Mit feinfühlender Sensibilität wird darauf aufmerksam gemacht, dass zum Beispiel auch die Frage der Finanzierung einer professionellen Sexualbegleitung für Menschen mit sehr schweren Bewegungsbeeinträchtigungen bei intakter Sexualfunktionen nicht ausgeklammert werden darf. Das macht deutlich, wie die Autoren den aufgegebenen Menschen sehen und achten. Hier scheint ein Bewusstseinsbildungsprozess auf, dem es um reflektiertes Gestalten der pädagogischen Prozesse geht, das von der Verantwortung für den individuellen Menschen mit körperlichen und motorischen Beeinträchtigungen im institutionellen Sozialraum getragen ist und im ethisch begründeten Handeln die Sinnfrage der eigenen Existenz und der Existenz des Anderen mit der von Viktor Frankl begründeten Trotzmacht oder Resilienz des Geistes mitbedenkt.
Das Kompendium „Körperbehindertenpädagogik“ wirkt der häufig noch anzutreffenden terminologischen Verwirrung entgegen und erfüllt die oben skizzierten Ansprüche des im Umbruch befindlichen und sich ausweitenden Fachs in den verschiedenen Institutionen. Alle Reflexions- und Lernfelder werden kurz, aber dennoch detailliert und in einem motivierenden Schreibstil dargestellt. Angesichts der Komplexität des Fachs wäre der 7. Auflage ein Sachwortverzeichnis zu wünschen.
Zusammenfassung: Das wohl einmalige Standardwerk der Körperbehindertenpädagogik enthält das aktuelle Fachwissen für eine breit gefächerte inklusive Praxis. Es liefert gut zu verstehende Informationen für die heute gebotene differenzierte pädagogische Arbeit in verschiedenen Institutionen. Das gut strukturierte Gemeinschaftswerk ist all denen zu empfehlen, die es mit der individualisierten Erziehungs- und Bildungskultur im inklusiven gesellschaftlichen Prozess jenseits des Plakativen wirklich ernst meinen.
Ferdinand Klein
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