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Das Bildungsangebot für Behinderte. Verfassungsrechtliche Anforderungen an das System der sonderpädagogischen Förderung. Eine Untersuchung auf der Grundlage der rechtlichen Regelungen und der Schulpraxis im Saarland.
Lang, Hansgünter (2017), ISBN 978-3-428-15072-4, Berlin: Duncker & Humblot.

Bereits der beträchtliche Umfang des Buches mit insgesamt 696 Seiten verweist auf eine äußerst sorgfältige Bearbeitung der Thematik, die akribisch und mit hoher Sachkenntnis erfolgt. Der Autor ist als Jurist über 30 Jahre im Kultusministerium des Saarlandes tätig gewesen, zuletzt als Bildungsstaatssekretär, und mit der Sonderpädagogik in Theorie und Praxis bestens vertraut. Rechtswissenschaftliche Überlegungen bilden den Ausgangspunkt der Studie. Sie beziehen sich auf die verfassungsrechtlichen Anforderungen, die an das System der sonderpädagogischen Förderung zu stellen sind, wobei das Völkerstaatsrecht berücksichtigt werden muss. Insofern geht es um nationale Gestaltungsmöglichkeiten angesichts internationaler Beschlussfassungen, aktuell der UN-Behindertenrechtskonvention. Dazu sind zahlreiche Fehlinterpretationen in Umlauf gebracht worden, die nach Lang dringend einer Korrektur bedürfen. Der Autor bleibt aber nicht bei Interpretationen geltender Rechtsordnungen stehen, sondern wendet sich auch der „Tatsächlichkeit ihrer Anwendung“ zu. Der Frage also, ob und inwieweit Rechtsnormen in die Praxis umgesetzt und die Rechte von Kindern mit Behinderung auf Teilhabe und ihr Bildungsanspruch eingelöst werden. Deshalb handelt es sich um keine abstrakte juristische Untersuchung, sondern nimmt die schulische Praxis notwendigerweise in den Blick.

Im ersten Kapitel werden die gesetzlichen Regelungen der integrativen / inklusiven Unterrichtung im Saarland detailliert dargestellt, mögliche Folgen für Kinder mit und ohne Behinderung benannt und Voraussetzungen der gemeinsamen Unterrichtung erläutert. Der zweite Teil setzt sich ausführlich mit der schulischen Realität auseinander, nennt statistische Daten, nimmt die pädagogische Qualität der Unterrichtung in den Blick und betont die Verantwortung, die der Staat dafür übernommen hat, dass der Bildungsanspruch aller Kinder im Unterricht auch tatsächlich realisiert wird. Das dritte Kapitel beschäftigt sich mit den Förderschulen, ihren juristischen Grundlegungen und pädagogischen Möglichkeiten, der vierte Teil mit der inklusiven Schule, der UN-Behindertenrechtskonvention und den einschlägigen bildungspolitischen Diskursen. Verfassungsrechtliche Erörterungen sind in die jeweiligen Kapitel integriert.

Aus der Fülle der Erkenntnisse, die das Buch bietet, sollen die besonders wichtigen hervorgehoben werden. Mit Entschiedenheit widerspricht der Autor der häufig emotional unterlegten und mit hohem moralischem Impetus vorgetragenen Behauptung, die UN-Behindertenrechtskonvention verlange eine gemeinsame Unterrichtung aller Schülerinnen und Schüler, sie erzwinge geradezu die Auflösung aller Fördereinrichtungen oder gar des gegliederten Schulsystems. Das ist mitnichten der Fall, wie Lang eindrucksvoll verdeutlicht. Ebenso wenig darf das Elternrecht, das bereits in Art. 26 der Allgemeinen Menschenrechte festlegt ist, infrage gestellt werden. Die einzelnen Nationen sind mit der UN-Behindertenrechtskonvention Zielvereinbarungen programmatischen Charakters eingegangen, die weder über die konkrete Vorgehensweise eine Aussage enthalten noch einen konkreten Endzustand definieren. Übersehen wird bei überzogenen Interpretationen der Konvention auch, dass diese in nationales Recht transformiert wurde, damit den Charakter eines einfachen Gesetzes trägt und dem Grundgesetz untergeordnet ist. Der Dreh- und Angelpunkt der Überlegungen ist der vom Grundgesetz garantierte Bildungsanspruch für Kinder mit Behinderung sowie der hohe Stellenwert, den das Kindeswohl in der UN-Behindertenrechtskonvention einnimmt. Daraus leitet der Autor ab, dass es neben gemeinsamer Beschulung eine „objektivrechtliche Verpflichtung“ des Staates gibt, auch Förderschulen bereitzuhalten. Zum einen, weil sie bestimmten Kindern eine optimale Förderung ermöglichen, andererseits, weil das Elternwahlrecht an das Vielfaltsangebot des Schulsystems gebunden ist. Auch wenn der Autor hier primär juristisch argumentiert und sich dabei unter anderem auf einen Beschluss des Bundesverfassungsgerichts von 2012 (also nach dem Inkrafttreten der BRK) bezieht, taucht er immer wieder in die Praxis ein und stellt Bezüge zur schulischen Realität her. Der empirische Forschungstand wird dabei miteinbezogen.

Inzwischen ist allgemein bekannt, dass eine kostenneutrale Inklusion unmöglich ist. Daran, dass sich die Bedingungen, die dazu notwendig sind, in überschaubarer Zeit einstellen, vermag Lang nicht so recht zu glauben. Zu nachhaltig sind die Erfahrungen aus dem Saarland, zu eindeutig ist die empirische Faktenlage, die belegt, dass die Betreuungsintensität über die Jahrzehnte immer defizitärer wurde. Die schulischen Arbeitsbedingungen haben sich im Laufe der Zeit verschlechtert. Das wurde, davon ist der Autor fest überzeugt, wissentlich in Kauf genommen, um (vermeintlichen) äußeren Verpflichtungen zu genügen und inneren Überzeugungen gerecht zu werden. Diesen Zustand hält Lang für rechtswidrig, da er der bestmöglichen Entfaltung der Persönlichkeit widerspricht. Im Wortlaut: „Die massive Steigerung der Fälle integrativer/ inklusiver Unterrichtung bei völlig unzureichender Personalausstattung hat zu einer massenhaften Nichterfüllung des Bildungsanspruchs behinderter Kinder und damit massenhaften Verstößen gegen ihr verfassungsrechtlich verbrieftes Recht geführt.“

Das zentrale Anliegen des Autors ist das Bildungsrecht von Kindern mit Behinderung und die Sorge darüber, ob es im erforderlichen Maße realisiert und damit dem Kindeswohl entsprochen wird. Die Stellungnahmen zur Schulstruktur leiten sich daraus her, sie gehen dem nicht als ungeprüfte Vorannahmen voraus und werden dann nachträglich ideologisch unterfüttert. Prinzipielle Einwände gegen eine gelungene gemeinsame Beschulung finden sich in dem Buch an keiner Stelle, wohl aber ein gezielter und scharfer Blick auf die gegenwärtige, mitunter bedrückende Realität. Der Autor wäre sicher der letzte, der sich über eine erfolgreiche schulische Inklusion, die den Kindern dient, nicht freuen würde.

Das Buch fordert wie kaum ein anderes zur weiteren Auseinandersetzung heraus. Es stellt gesichert Erscheinendes oder mitunter sogar für unumstößlich Gehaltenes infrage. Langs Überlegungen können aus unterschiedlichen Perspektiven kritisch betrachtet, Fakten auch anders gewichtet und Rechtsgüter abweichend interpretiert werden. Eines steht aber fest: Die Vorlage, mit der es sich auseinanderzusetzen gilt, ist in ihrer Differenziertheit fast einmalig. Juristische Grundlagen und ihre Interpretationen werden so kenntnisreich und stringent aufbereitet, die Gegebenheiten vor Ort so plastisch beschrieben, dass an ihnen nicht vorbeigegangen werden kann.

Bernd Ahrbeck

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