In neun Kapiteln entfaltet der Allgemeine Pädagoge und Sozialpädagoge Michael Winkler mit offenen Begriffen seine facettenreichen Reflexionen zur Inklusion in immer wieder neuen Anläufen aus der prallen Lebenswirklichkeit heraus. In hermeneutischen und dialektischen Strukturzusammenhängen zeigt er auf die vielfältigen politischen, sozialen, pädagogischen und neurobiologischen Bedingungs- und Beziehungszusammenhänge hin, in denen ein Mensch mit Behinderung oder Krankheit lebt, sich entwickelt und bildet. Und er macht die Sonderpädagogik darauf aufmerksam, dass sie mit ihrem evidenzbasierten Tunnelblick und ihren standardisierten Definitionen den Menschen in seiner Individualität nicht hinreichend wahrnimmt. Wenn Daten über den individuellen Menschen mit Daten anderer verglichen werden, dann wird das als Sozialreform der Politik verbucht. Und er fragt: Können soziales Miteinander und Hilfsbereitschaft wirklich gemessen und in Rankings ausgedrückt werden?
Winkler weist also die Pädagogik des Machens in die Schranken, die Bildung als Optimierung sichtbarer Leistung sieht und diese auf die neoliberale Gesellschaft reduziert. Hier bleibt das subjektive Handeln in intersubjektiven Situationen auf der Strecke. Er fragt nach der Würde des Menschen, nach seiner Individualität und Subjektivität, erkennt das standardisierte und normierte Leistungssystem, das nichts anderes als Selektion und Allokation betreibt. Sensibel deckt er – historisch aufgeklärt – die Gegenwart mit ihren Widersprüchen für den individuellen Menschen auf und schafft jenseits von Begriffsschatullen ein Problembewusstsein für die freie selbstverantwortliche Urteilsbildung in Forschung, Lehre und Praxis.
Es tut der Sonderpädagogik gut, wenn ein ausgewiesener soziologisch orientierter Pädagoge mit bildungstheoretischen und bildungsphilosophischen Ambitionen die Inklusionsdiskussion besonders aus sozialpolitischer Perspektive kritisch-abwägend begleitet und auf Defizite aufmerksam macht. Winkler zeigt auf, wie die demokratische Perspektive dem Leistungsaspekt des kapitalistischen Arbeitsmarkts verpflichtet ist, sich von der Achtung der Person abwendet und das pädagogische Handeln auf das Messbare reduziert. Hier gehen Subjektivität, Identität, Autonomie und Anerkennung des Subjekts verloren. Er deckt in immer wieder neuen Anläufen mit einem breiten Spektrum an Gedanken, Erinnerungen und Impulsen die Formen der Macht auf, die dem Menschen die Subjektivität rauben. Seine (selbst)kritischen Einlassungen weisen auf widersprüchliche Zusammenhänge hin, die im System selbst enthalten sind und pädagogisches Denken in Bewegung halten.
Sein Plädoyer für subjektives Denken geht die Kontingenz und das Risiko der menschlichen Entwicklung bewusst ein. Für ihn lautet der Kern aller Pädagogik: Wir müssen lernen frei leben zu können und selbst zu gestalten, „weil menschliches Leben in uns aus Kooperation heraus entsteht und geschieht, mithin in komplexen Prozessen gegenseitiger Anregung, Unterstützung, Förderung und Widerständigkeit beginnt und sich vollzieht“ (S. 125). Hier wird aktive Mitwirkung zum Motor aller Entwicklung, die Teilhabe ermöglicht. Bei dieser pädagogischen Handlungslogik geht es stets um eine Praxis zwischen Subjekten, die einander zugewandt sind, „kooperieren und basal altruistisch eingestellt sind“ (S. 126).
Inklusion, so kann resümierend gesagt werden, wird dann gelingen, wenn die Achtung des Anderen in seiner Subjektivität im gesellschaftlichen Miteinander in allen Lebens- und Lernbereichen thematisiert und eine berufsethische Haltung praktiziert wird. Es gibt wohl kaum ein Buch, das in dieser Breite und Tiefe die Inklusion als Wirklichkeit und notwendige gesellschaftlich und pädagogische Vision reflektiert. Der Autor schafft es, komplizierte Sachverhalte bewusst zu machen: Er nimmt den Leser und die Leserin mit in das Reich der Bildung. Wer wollte sich dem entziehen?
Ferdinand Klein
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