Andreas Möckel ist im Januar dieses Jahres 92 Jahre alt geworden. Dabei ist er bis heute Vollblutpädagoge und immer in der Diskussion geblieben. Wer aber erwartet, dass im vorliegenden Buch ein Basta!-Pensionär auftritt, der die gültigen Regeln verkündet, irrt. Andreas Möckel tunt auch nicht traditionelle Lehre auf moderne Verhältnisse – und schon gar nicht macht er den Deckel auf seine bisherigen Werke – schließt also etwa sein Lebenswerk ab. Im Gegenteil: Andreas Möckel eröffnet an einigen sensiblen Stellen eine notwendige Diskussion neu.
Zunächst fällt das bedeutungsschwangere Wort „Paradigma“ im Titel auf. Einige Kollegen postulierten schon verschiedene Paradigmen innerhalb der Sonderpädagogik und sahen sich berufen, neue (z.B. ein medizinisches) zu entwickeln. Andere bedeutende Sonderpädagogen haben dagegen profilierte Ansätze und Thesen entwickelt, für die sie stehen und womit in der Heilpädagogik ihre Namen verbunden sind. Warum, so könnte man fragen, spricht nicht auch Andreas Möckel von einem Ansatz. Von seinem Ansatz in der Heilpädagogik?
Der Autor verwendet das Wort Paradigma bewusst und ohne Scheu vor den Diskussionen um Thomas Kuhn und andere. Wenn er vom Paradigma der Heilpädagogik spricht, beleuchtet er die Aspekte der Beziehung: Es sind die Aspekte der Wirklichkeit, die Heilpädagogik konstituieren. Es sind die Aspekte, die das Erziehungsfeld erweitern, die aus der reinen Familien- oder Schulerziehung eine öffentliche Erziehung machen. Es sind Aspekte, die zusammen – so hat Andreas Möckel es selbst einmal formuliert – den Algorithmus zur Herstellung neuer Methoden, den Algorithmus zur Herstellung neuer Erziehungsmittel bilden.
Und schließlich fällt bei der äußerlichen Betrachtung des Buchs im Titel auch die Heilpädagogik auf. Heilpädagogik? Man möchte fragen: „Wie kommen sie bitte dazu, ein neues Buch über Heilpädagogik zu schreiben? Warum gehen Sie nicht mit der Zeit und schreiben über Inklusionspädagogik? Das Paradigma macht deutlich, was Heilpädagogik für Andreas Möckel ist: Es ist der Ort, an dem wiederentdeckt wird, dass Erziehung lebensnotwendig ist. Unterricht und Erziehung machen den Mensch zum Menschen. Ohne Erziehung werden wir nicht zum Menschen. Die Heilpädagogik – „das pädagogische Heilen“, so schreibt Andreas Möckel „bezieht sich auf die unerwünschten Wirkungen und Nebenwirkungen des Erziehens selbst im weitesten Sinne“ (25).
Aus diesen Nebenwirkungen heraus ergeben sich die bereits erwähnten Aspekte der Erziehung. Diese beschreibt Andreas Möckel aus vier Perspektiven: Aus der Perspektive der Krise, der Kompensation, der Sprache und schließlich der Selbstverantwortung und Selbstheilung. Die pädagogisch heilende Intervention also – die Heilpädagogik – bearbeitet Probleme, für die die allgemeine Pädagogik im 18. Jahrhundert den Algorithmus nicht gefunden hat. Heilpädagogik entwickelt Methoden und Zugänge zu neuen Erziehungsmitteln. Bleibt die Frage, ob es sich bei der Heilpädagogik um eine eigene Disziplin handelt, deren Bezugsdisziplin etwa die Pädagogik ist. Dann könnte die Pädagogik für die „normalen Kinder“ zuständig sein, die Heilpädagogik dagegen für diejenigen Kinder, die aufgrund psychischer oder physischer Schädigung auf eine pädagogisch heilende Intervention – also auf Methoden der Heilpädagogik – angewiesen sind. Für Andreas Möckel sind diese pädagogisch heilenden Methoden Teil einundderselben Pädagogik, die allerdings im Lernen und Erziehen einen zweiten Anfang, einen Neuanfang ermöglicht, weil es in speziellen Fällen besonderer Zugänge und heilender Interventionen bedarf.
Nach dieser Außenansicht schlagen wir das Buch auf und finden die vier Aspekte des Paradigmas einer solchen Heilpädagogik in den vier Hauptkapiteln des Buches. Erste Perspektive: Unter der Überschrift Vernachlässigung findet sich die Krise als Anfang der Heilerziehung. Von dieser Krise schreibt Andreas Möckel: „Es ist ein großer Unterschied, ob ein Fehler und eine sich daraus ergebende Krise zu einem Schülersuizid führt oder erkannt, behoben, vergeben, ausgebügelt, korrigiert, ins Positive gewendet werden kann“ und weiter „Die Krise, um die es in der Heilpädagogik geht, ist eine Krise der Erwachsenen, die den Auftrag haben, zu erziehen und nicht wissen, wie sie ihn erfüllen sollen. Die Krise ist zunächst eine Sache der für die Erziehung Verantwortlichen und dann erst eine Krise der Kinder. Die Kinder geraten in Not, weil die Erziehungspflichtigen in Not sind. Auf den ersten Blick scheint es gerade umgekehrt zu sein“ (30).
Die nächste Perspektive fokussiert Heilpädagogik als zweiten Anfang in der Erziehung auf einem neuen Ersatzweg. Kapitel 3 handelt von der Kompensation. Dabei geht Möckel davon aus, dass Erziehung selbst für den Menschen überlebenswichtig ist: „Es gibt keinen fertigen, aber noch rohen Menschen, der durch die Erziehung nur noch den Feinschliff erhält und als Naturmensch als zweite Natur nur noch seine Kultiviertheit erhält. Ohne die Kompensation der Erziehung durch die Gesellschaft können die Kinder überhaupt nicht zu menschlichen Wesen werden“ (59f.). Die Kompensation durch Heilpädagogik ist allerdings von der Kompensation in der Erziehung zu unterscheiden: „Wenn die große Kompensation auf vermeintliche oder wirklich unüberwindliche Barrieren trifft, dann ist Heilpädagogik eine Kompensation in der Kompensation der Erziehung“ (73). Hier wird klar, was Möckel mit dem Algorithmus meint, der die Heilpädagogik zu neuen Zugängen führt, weil sie Teil der Pädagogik ist, die hier nicht weiterweiß. Mir persönlich ist wichtig anzumerken, dass sich Heilpädagogik mitunter auch für eine Inkompetenz-Kompensationskompetenz stark machen muss.
Die dritte Perspektive innerhalb des Paradigmas der Heilpädagogik begegnet uns in Kapitel 4. Hier macht Andreas Möckel deutlich, inwiefern der neue Weg immer einen neuen Zugang, eine neue Sprache oder eine neue Variante der Sprache beinhaltet: „Was ist unentbehrlich, wenn ein Menschenkind ein erwachsener, verantwortungsbewusster Mensch werden soll? Wenn man so fragt, stößt man auf die Sprache. Sprache ist die Kraft, die aus unmündigen Kindern mündige erwachsene Menschen werden lässt“ (83). Dabei verweist Andreas Möckel auf Peter Rödler (1993), der es als „Aufgabe jeglicher Pädagogik“ ansieht, „Menschen zur Sprache zu bringen“ (88). Die Erziehung beginnt mit der Namensgebung. Durch diesen Namen werde ich zum Ich. Und mit diesem Namen und mit der Sprache gibt die Gesellschaft dem Kind Anteil am Menschsein. Hier knüpft nun die Heilpädagogik an: „Die Heilerziehung ist dadurch entstanden,“ so Andreas Möckel, „dass taubstumme Kinder, welche die verbale Sprache von sich aus nicht lernen konnten, in ihrer Benachteiligung erkannt worden sind. Die in Europa sich anbahnende öffentliche Erziehung in Primarschulen schien auf taubstumme Kinder nicht anwendbar. Es drohte diesen Kindern ständig ein vorzeitiges Ende ihrer Erziehung“ (107). Heilpädagogik findet neue Wege, neue Zugänge zu den vom Scheitern beim Lernen bedrohten Kindern. Heilpädagogik findet eine Sprache und heilt pädagogisch.
Und schließlich kommen wir zur vierten Perspektive: In Kapitel 5 zeigt der Autor, dass Heilpädagogik – als eine Form der Erziehung, die per definitionem zur Selbstständigkeit und Mündigkeit führen will – immer die Selbstheilung und Selbsthilfe voraussetzt. Ziel bleibt in den Ausführungen Andreas Möckels: „Die Kinder müssen sich selbst am Lernen betätigen oder wenigstens mit betätigen, sonst gibt es keine Erziehung. So etwas wie den Nürnberger Trichter gibt es nicht, am wenigsten in der Heilerziehung, selbst wenn viele Menschen ihn sich gerade dort wünschen. Gerade in der Heilerziehung findet ‚eine bloße Wissensvermittlung‘ oder ‚ein Beibringen‘ nicht statt“ (114). Diese vierte Perspektive des Paradigmas der Heilpädagogik stellt also die Forderung dar, eine eigenverantwortliche Lebensführung zu ermöglichen. Nichts weniger. Auch dann nicht, wenn es umständlich und unökonomisch erscheint – wie im Falle von schwerst mehrfach behinderten oder schwer erziehbaren Kindern und Jugendlichen.
Das neue Buch von Andreas Möckel ist brandaktuell. Es stellt Fragen, die in der heutigen Diskussion um inklusive Schulen beantwortet werden müssen. Und es bringt in Erinnerung, woher die Heilpädagogik eigentlich kommt, wohin sie gehört und was ihre spezifischen Aufgaben sind.
Stephan Ellinger
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