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Mit Janusz Korczak Inklusion gestalten
Ferdinand Klein (2018). Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht. ISBN 978-3-525-71143-9

Ferdinand Kleins Buch „Mit Janusz Korczak Inklusion gestalten“ schlägt den naheliegenden, aber auch wiederum überraschenden Bogen zwischen der epochalen Idee der Inklusion und dem Wirken einer der bedeutendsten Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts. Dieser Bogen verleiht dem Gedanken der Inklusion eine Tiefe, die sie in den Abnutzungserscheinungen des Alltags zuweilen zu verlieren droht und gibt der großen Persönlichkeit Korczaks in den pädagogischen Diskursen der Gegenwart den ihm gebührenden Rang.

Kleins Buch beginnt auf Korczaks Spuren und führt zu einer erfahrungsbezogenen Praxis der Inklusion, immer so, dass dort, wo über Korczak gesprochen wird, inklusives Denken aufscheint und dort, wo es schwerpunktmäßig um Inklusion geht, Korczaks Leben und Denken aufscheint. Auf diese Weise entsteht eine lebensvolle und praxisbezogene ethische Fundierung des Inklusionsideals.

Korczak, der Arzt war, ein weisheitsvoller Erziehungsberater und als Pädagoge zum Freund und Leidensgenossen der Kinder wurde, mit denen er zusammenlebte und in den Tod ging, stellte das Kind ins Zentrum seines Denkens und Handelns und nicht die abstrakten oder interessengeleiteten Ansprüche der Erwachsenenwelt. Klein zeigt, dass Korczaks Blick immer originär, oft originell und frei von den Zwängen des institutionalisierten Erziehungs- und Bildungswesens war. Er vertraute auf die schöpferische Kraft des Kindes und auf Erziehung als Kunst und damit, wie Klein es nennt, auf eine perspektivreiche Provokation. Im Angesicht äußerster Bedrohung und Tod wurde Korczak zum Bruder der Kinder des Waisenhauses und zu einem Fanal für eine bessere Welt. Es macht den Gedanken der Inklusion zu einem dauernden Politikum.

Dieses Korczak-Buch zeichnet eine Lebendigkeit aus, da es viele Stimmen vereint: Es kommen Menschen mit Behinderung zu Wort, Kinder, die Korczak erstmals kennengelernt haben, heute praktisch unbekannte Menschen wie Irina Reppowa, eine Schülerin Korczaks, die seine kinderrepublikanischen Ansätze aufgegriffen hat, Menschen aus der pädagogischen und heilpädagogischen Praxis und akademische Forscher sowie Lehrerinnen und Lehrer aus dem Bereich der Erziehungs- und Gesellschaftswissenschaften. Dieses Buch ist selbst inklusiv und arbeitet mit weitgespannten Bögen sowie vielfältigen Einzelthemen: das Individuum und das Soziale, Theorie und Praxis, Forschung und Lebenswelt, Personen und Organisationen, Mensch und Gesellschaft. Ihm kommt zugute, dass sein Autor nicht nur seit vielen Jahren regelmäßig zu Korczak und dessen Umkreis publiziert hat, sondern auch die Entwicklungen im Bereich der Heil- und Sonderpädagogik seit Jahrzehnten verfolgt und mitgestaltet sowie insbesondere auch in ihren gesellschaftlichen Dimensionen kritisch-konstruktiv beobachtet hat.

Wie sollte das Buch gelesen werden? Es kann von Anfang bis Ende gelesen werden und eine bereichernde und gewissenhaft entwickelte Sichtweise auf ein aktuelles Thema erleben lassen. Darüber hinaus ist es auch ein Lesebuch, das dazu einlädt, sich das eine oder andere Kapitel gesondert vorzunehmen und es als Kaleidoskop von vielfältigen Aspekten und Fragestellungen zur Hand zu nehmen. Es ist eine Summe dessen, was Ferdinand Klein in seinen zahllosen Lehrveranstaltungen, Seminaren und Tagungsbeiträgen sowie in seinen Texten erarbeitet hat und nun kondensiert, auf ein Wesentliches bezogen, vorliegt.

Das Titelbild – Korczak unter den Kindern – zeigt eine ungewöhnlich hoffnungsvolle und fröhliche Szene, deren trübe Farben jedoch auf den bitteren Ernst der Lage hindeuten. Es stammt, wie einige weitere im Buch, von Itzchak Belfer, dem 1923 in Polen geborenen Maler, der ab 1930 sieben Jahre lang in Korczaks Waisenhaus in der Krochmalna in Warschau lebte, dann zu seiner Familie zurückkehrte, bevor er nach dem Einmarsch der nationalsozialistischen Truppen nach Russland floh. Seit 1948 lebt er in Israel und widmet seine Kunst dem Gedenken der Opfer der Shoah (www.itzchakbelfer.com). So schließt sich auch hier ein Bogen, indem ein Schüler Korczaks Ferdinand Kleins Buch ein Gesicht gegeben hat, der wohl zu seinen letzten lebenden Schülern gehört.

Rüdiger Grimm

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