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Prinzip Inklusion: Grundlagen einer interdisziplinären Metatheorie in religionspädagogischer Perspektive
Schweiker, Wolfhard (2017). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. IBSN 978-3-7887-3161-8

Um die Bewertung voranzustellen, die üblicherweise am Schluss einer Buchbesprechung steht: Wer sich mit der Frage auseinandersetzt, was unter ‚Inklusion‘ – gesamtgesellschaftlich, im Bildungsbereich und auch in einzelnen Schulfächern – zu verstehen ist, kommt um die Auseinandersetzung mit dieser Schrift nicht herum. Schweiker nennt seine Darlegung bescheiden „Grundlagen einer Metatheorie“, für die er nur „Bausteine“ liefere. Die höchst lesbare Schrift ist argumentativ differenziert und zugleich begründet urteilsfreudig – ein Gewinn nicht nur für diejenigen, die am wissenschaftlichen Diskurs teilhaben, lesend oder selbst aktiv, sondern für alle Praktiker, die in pädagogischen (und insbesondere inklusions- und sonderpädagogischen) Kontexten handeln. Der Untertitel der Arbeit verweist darüber hinaus darauf, dass der Sonderpädagoge, Pfarrer und Religionspädagoge Wolfhard Schweiker eine theoretische Grundlage für das entfaltet, was er „inklusiven Religionsunterricht“ nennt: Selbst für Anders- oder Ungläubige ein intellektuelles Vergnügen mit seinen historischen, theologischen und didaktischen Reflexionen! Kurzum: Schweikers Arbeit hilft uns, die eigenen oft unklaren (theoretischen und normativen) Grundlagen des eigenen Denkens und pädagogischen Handelns mit seinen Widersprüchen und Sisyphus-Momenten zu klären.

Schweiker geht in vier großen Schritten vor: In den ersten drei Kapiteln arbeitet er die sprachlichen Konnotationen des Begriffs Inklusion, die rechtlichen Fragen insbesondere nach der Rechtswirksamkeit der UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland und den soziologischen Diskurs um Inklusion und Exklusion auf. Im zweiten Schritt setzt er sich mit pädagogischen Ansätzen zur Heterogenität, Pädagogik der Vielfalt, inklusiver (und sonderpädagogischer) Didaktik und Theoriebildung auseinander. Im dritten Schritt versucht er zu klären, ob und wie inklusives Denken (und Handeln) mit der bisherigen (evangelisch)religionspädagogischen Praxis und Theologie anschlussfähig und auf welcher theoretischen Grundlegung inklusive Religionspädagogik zu entwickeln ist. Das führt im vierten Schritt zu der Bildung von Bausteinen einer Metatheorie von Inklusion (und inklusiver Bildung), die m.E. unabhängig von religiöser Begründung, aber mit dieser kompatibel sind.

Das linguistische erste Kapitel führt uns von den lateinischen Wurzeln von includere, als (zwangsweises) Einschließen (also als Exklusion) und der (freiwilligen) Klause (des Klosters, des Selbstausschlusses), über inclusion im englischsprachigen Raum als gesellschaftliche Einbeziehung bis hin zur heute auch im deutschen Sprachraum verbreiteten Interpretation als Teilhabe auf Augenhöhe, als Selbstbestimmung im sozialen Kontext, d.h. als relationalem Begriff. Schon hier klingt die von Schweiker zu Recht hervorgehobene anthropologische Definition des Menschseins als grundsätzlich soziales Ich an, das im unabschließbaren Prozess der Sozialisation und Entwicklung nur in einer vielfältigen, vorgegebenen wie selbstgewählten sozialen Verflechtung seine – immer wandelbare – Individualität erhält.

Die menschenrechtliche Begründung von Inklusion, verbunden mit den Begriffen der Würde, der Selbstbestimmung, der Unveräußerlichkeit, also der Freiheit (im o.a. relationalen Sinne) prägt auch den rechtswissenschaftlichen Diskurs insbesondere im Kontext der UN-Behindertenrechtskonvention, der im zweiten Kapitel aufgearbeitet wird. Inhaltlich knüpft die UN-BRK an die Menschenrechtserklärung von 1948 an – sprachlich taucht inclusion erst in der Salamanca-Erklärung von 1994 und dann in der UN-BRK von 2006 auf. Bekanntlich geht es im Sinne dieser Deklarationen um Zugang, Einbezogensein, Schutz und um die Verpflichtung der Staaten, dies nicht nur formal, sondern auch praktisch durch die notwendigen Vorkehrungen, auch im Bildungssystem, zu ermöglichen. Entscheidend – und seit 2009 auch in Deutschland rechtlich gültig – ist das Recht auf Inklusion in allen Lebensbereichen, verbunden mit einem individuellen Beschwerderecht. Angesichts mancher gegenwärtiger abwertender (und meist verkürzter) Bemerkungen zur Inklusion ist die Klarheit, mit der Schweiker „Inklusion als ein übergreifender Grundrechtsbegriff“ definiert, der „die klassischen Menschenrechte auf Partizipation, Zugang und Mitwirkung“ einschließt (83), begrüßenswert.

Soziologisch orientiert sich Schweiker an der Inklusions- und Exklusionsdiskussion, in Weiterführung des strukturell-funktionalen Konzepts von Talcott Parsons, die in der Systemtheorie von Niklas Luhmann und Rudolf Stichweh geführt werden. Mit diesen, ausführlich vorgestellten Ansätzen können gesellschaftliche Teilsysteme (wie Recht; Bildung; Gesundheitssystem; Religion usw.) in ihren Funktionen für das Gesamtsystem und die Menschen analysiert werden. Das seine gesellschaftlichen sozialen Verflechtungen selbst interpretierende (und in Teilen selbst wählende) Individuum sind jedoch in diesen Ansätzen wenig beachtet, wie der Verfasser selbstkritisch anmerkt. Auch der gesellschaftliche Wandel – und damit die heutige Realität – kann systemtheoretisch kaum erklärt werden. Deshalb müsste m.E. die theoretische Durchdringung von gesellschaftlichen Inklusions- und Exklusionsprozessen durch rollentheoretisch-sozialpsychologische Ansätze in der Tradition Erving Goffmanns (Stichwort ‚Stigma-Management‘) und zeitanalysierender soziologischer Zugänge, wie sie Richard Sennett und Zygmunt Baumann vorgenommen haben, weitergeführt werden.

Das vierte Kapitel ist der Inklusionsentwicklung und -debatte innerhalb der Pädagogik (einschließlich der Sonderpädagogik) gewidmet. Schweiker wirft der Inklusions-Pädagogik mangelnde theoretische Fundierung vor (u.a. 155) und erklärt diese zugleich durch ihre Wurzel in einer sozialen (Eltern-)Bewegung. Er kennzeichnet die herkömmliche Sonderpädagogik als ein „in sich weitgehend abgeschlossenes Wissenschaftsfeld“ (150), das von der allgemeinen (Schul-)Pädagogik ignoriert worden sei und sich selbst abschottete. Sein Ziel ist, im Sinne einer Zusammenführung, eine übergreifende „inklusive Pädagogik“ (153).

Trotz dieser Kritik stellt er den ökosystemischen Ansatz Alfred Sanders, Georg Feusers integrative Didaktik, Helmut Reisers Theorie integrativer Prozesse, Hans Wockens inklusive Pädagogik und nicht zuletzt – und besonders ausführlich – die Pädagogik der Vielfalt in der Ausformulierung von Annedore Prengel dar. Prengel hat bekanntlich seit 1993 in immer differenzierteren Reflexionen das Verhältnis von Gleichheit und Verschiedenheit, von Anerkennung und Veränderung, von Gerechtigkeit und Wertorientierung entfaltet. Die Pädagogik der Vielfalt in der Gemeinsamkeit, so könnte zusammengefasst werden, orientiert sich im Sinne der Gerechtigkeitstheorie von John Rawls daran, dass Ungleichheit nur akzeptabel sei, wenn sie für jedermanns Vorteil ist, dass aber kompensatorisch gehandelt werden müsse, also die am wenigsten Begünstigten – physisch oder sozial Beeinträchtigte, aber auch benachteiligte Frauen/Männer und Zuwanderer – im Sinne einer ‚distributiven Gerechtigkeit‘ besondere Unterstützung erhalten.

Schweiker diskutiert höchst anregend die sich aus diesen und einigen weiteren Theoriezugängen ergebenden Dilemmata, die nicht nur theoretisch, sondern auch (schul)praktisch von höchster Bedeutung sind, wie die zwischen der notwendigen Ungleichbehandlung und der gleichzeitigen Anerkennung, oder des Verhältnisses von innerer und äußerer Differenzierung. Insgesamt hält er jedoch fest, dass eine (inklusive) Pädagogik der Vielfalt seine Wertorientierung tiefer begründen müsse als (nur) mit Verweis auf die Menschenrechtsbegründung in der UN-BRK. Die Wissenschaft, sei es eine fachdidaktische, sonderpädagogische oder allgemeinpädagogische, müsse ihr Menschenbild und die darin enthaltenen Werte offenlegen.

Es ist für den Rezensenten kaum möglich, das umfangreiche fünfte Kapitel in seinem argumentativen Verlauf adäquat abzubilden: ‚Inklusion in der Religionspädagogik‘ ist gleichsam ein Buch in einem Buch. Schweiker benennt „Inklusion als neues Leitprinzip der Religionspädagogik“ (233) und will dafür die theoretischen Grundlagen schaffen. Dazu müsse die bisherige Ausklammerung von Sonderpädagogik und Behinderten aus dem klassischen religionspädagogischen Diskurs, die der Diakoniewissenschaft überlassen blieben, überwunden werden, um (historisch: wieder) eine gemeinsame inklusive Wertgrundlage und Theorie zu finden. Er knüpft dabei an die Vorarbeiten von Anna-Katharina Szagun und besonders Anita Müller-Friese aus den 1990er Jahren an. Müller-Friese geht von der Normalität menschlicher Verschiedenheit als Grundlage integrativer pädagogischer Prozesse aus und hat in der „Gottebenbildlichkeit“ (252) jedes Menschen die theologische Basis für Anerkennung (als „Beziehungsverhältnis auf Augenhöhe“, 304) und Wertschätzung des Individuums unabhängig von physischen, sozialen (oder gar ethnischen) Merkmalen gefunden. Warum „Gottebenbildlichkeit“ in der Geschichte der kirchlichen Sonderschulen und Einrichtungen jahrhundertelang eher Fürsorgehaltung und tatsächliche Separation begründete, der Begriff also keine zwingendes (inklusives) Handeln und Kommunikation auf Augenhöhe bewirkt(e), wäre zu diskutieren.

Auch weitere religionspädagogischen Diskurse, etwa die von Ernst Nipkow und Friedrich Schweitzer kreisen immer wieder um Differenz, Pluralität, Dialog, Wertgebundenheit und das Indoktrinationsverbot, Elemente, die anschlussfähig sind an inklusive Pädagogik, an eine zu entwickelnde „Religionspädagogik der Vielfalt“ (280, 419). Schweiker referiert zudem ausführlich innertheologische Diskurse, Fragen und Zweifel, auf die hier nur verwiesen sei, die jedoch innerhalb der (ev.) Theologie und Religionspädagogik bedeutsam sind. Nur ein Beispiel: Mit Ina Schröder wird gefragt, ob ein inklusiver Religionsunterricht noch ein konfessioneller (mono-evangelischer) Unterricht sein könne (367) – was also inklusiv daran sei, wenn eine (evangelische) Schülergruppe unter sich ist (und sein will). Die Antwort bleibt offen.

Auch religionspädagogisch muss nach Schweiker, wie jede Inklusion, von transparenten und vielfältigen Werten ausgegangen werden. „Inklusion kann ohne Freiheit radikal ideologisch, ohne Gerechtigkeit reaktionär, ohne Gleichheit ungerecht, ohne Vielfaltskonzept egalisierend und ohne Würde menschenverachtend werden“ (383). Diese Wertebenen werden religionspädagogisch differenziert entfaltet und von einem inklusionspädagogischen Diskurs abgegrenzt, der – nach Schweiker – „mechanistisch konzipierte Balancemodelle“ (419) (also Vielfalt in der Gemeinsamkeit, egalitäre Differenz, Anerkennung und Veränderung usw.), aber eben nicht seine Wurzeln in der „Gottebenbildlichkeit“ der menschlichen Vielfalt hat. Darüber könnte gestritten werden.

Im abschließenden sechsten Kapitel führt Schweiker seinen Diskurs in die gemeinsamen Grundlagen einer inklusiven Metatheorie. Er benennt fünf Wertgrundsätze als Spannungsbögen: Menschenwürde und Relationalität (wechselseitige Achtung); Partizipation und Freiheit („Miteinbezogenheit bei unverschlossenen Türen“, 433); Differenz und Pluralismus (Vermeidung von Diskriminierung); Anerkennung und Gleichheit (Grenzen der Anerkennung und normatives Verständnis von Gleichheit); Gerechtigkeit und Veränderung (ausgleichende Gerechtigkeit, angemessene Vorkehrungen). Zu diesen fünf Spannungsbögen – wobei der erste als leitende Bezugsgröße angesehen wird (431) – fügt Schweiker fünf Umsetzungsaspekte hinzu: mögliche Begrenzungen bei der Realisierung und unterschiedliche Realisierungswege, auch durch subjektive Motive und Interpretationen; die je neue Erfahrungsabhängigkeit inklusiver Bildung und Haltung in jeder Generation; die Gestaltung von Differenz als Teil einer Einheit (Pädagogik der Vielfalt in der Gemeinsamkeit); und nicht zuletzt Prozessabhängigkeit inklusiver Entwicklungen bei gemeinsamen Visionen. Mit diesen zwei mal fünf Bausteinen muss sich m.E. künftig jede inklusionsbezogene Pädagogik auseinandersetzen.

Schweiker betont zu Recht, dass er eine Theoriediskussion führt, er kennt aber auch die empirische Integrations- bzw. Inklusionsforschung, wie der tabellarische Anhang zeigt, und selbstverständlich die inklusive (und nichtinklusive) bundesdeutsche Entwicklung. Er selbst hat schon früh an der Unterstützung innerkirchlicher inklusiver Arbeit mitgewirkt, etwa durch die Mitherausgabe des Bands ‚Evangelische Bildungsverantwortung: Inklusion‘ (Pithan/Schweiker 2011) oder durch die Mitwirkung am Band ‚Es ist normal, verschieden zu sein‘ des Rates der Ev. Kirche (2014). Offen muss bleiben, wie seine Bausteine Inklusion die empirische Forschung fundieren können. Offen ist auch, welche Schlussfolgerungen seines Theoriekonzepts für die konkrete bildungspolitische (und fachdidaktische, sonderpädagogische, schulpädagogische) Umsetzung haben können. Das wird beispielsweise sichtbar darin, dass selbst fachlich Versierte wie Hans Wocken mit Wolfhard Schweiker darum streiten, wie der Begriff der (Wahl-)Freiheit (zwischen Exklusion und Inklusion) zu verstehen sei (vgl. Wocken 2017, Schweiker 2017). Daraus lernen wir, dass es zwischen Theorie und Praxis enge Bildungen, aber keine Automatismen gibt. Unstrittig ist jedoch, wie schon einleitend gesagt, dass diese Arbeit unser alltägliches pädagogisches Handeln aufklären hilft.

Ulf Preuss-Lausitz

 

Literatur:

  • Pithan, A. / Schweiker, W. (Hrsg.) (2011). Evangelische Bildungsverantwortung: Inklusion. Ein Lesebuch. Münster: Comenius-Institut.
  • Es ist normal, verschieden zu sein (2014). Inklusion leben in Kirche und Gesellschaft. Eine Orientierungshilfe des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland. Im Auftrag des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland herausgegeben vom Kirchenamt der EKD. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus.
  • Wocken, H. (2017). Gibt es ein Recht auf Exklusion? (Zu ‚Prinzip Inklusion‘ von W. Schweiker). In Ders.: Beim Haus der inklusiven Schule. Hamburg: Feldhaus, 68-106.
  • Schweiker, W. (2017). Bedingte ‚Selbstexklusion‘ als Freiheitsrecht der Inklusion (Antwort auf H.Wocken). In Wocken 2017, 107-117.
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