Dieses Buch ist ungewöhnlich und möchte offenbar auch nicht anders daherkommen. Es ist ein Kompendium/ Potpourri aus Theorie und Praxis, entstanden vor dem Hintergrund der Lehre und Forschung im Bachelorstudiengang Heilpädagogik/ Inclusion Studies und der Sozialen Arbeit an der Hochschule Zittau/Görlitz. Wie seine sich entfaltende Thematik selbst beleuchtet es verschiedene Blickwinkel. Es nimmt verschiedene Perspektiven ein, lässt alle Beteiligten selbst zu Wort kommen, rundet sich nicht zwischen Anfang und Ende und führt dennoch umfassend in ein faszinierendes Thema ein, ohne die Stringenz der Hinführung zu den wesentlichen Aussagen vermissen zu lassen. Die Inhalte bewegen sich zwischen Autismus (Melanie Schrimpf) und Altersdemenz (Michel Constantin Hille), zwischen narrativ-autobiographischem und wissenschaftlich- distanziertem Auftreten.
Die Diagnostik als Beziehungsgestaltung kann je nach Blickwinkel als Ergänzung oder funktionaler Gegenentwurf zu einer ausschließlich systemisch-konstruktivistischen, psychoanalytischen oder lerntheoretisch-behaviouristischen Perspektive auf den Menschen gesehen werden und deutet damit eine Flexibilität an, die auch auf die Vielfalt ihrer methodischen Möglichkeiten verweist. Als zyklischer phänomenologischer Prozess, so schreibt Susanne Römer im Vorwort, ist sie an das Erleben und Vermögen einer Person angebunden (vgl. S. 8). Aus der Perspektive einer rehistorisierenden Diagnostik oder einer biographischen Rekonstruktion wird das Gegenüber nicht nur in seinem persönlichen Gewordensein wahrgenommen, sondern, was noch wichtiger ist, mit ihm und anhand seiner Berichte und Wahrnehmungen die Zone der nächsten Entwicklung erarbeitet.
Betrachten wir den Kontext: Das Erlebte wird durch die Beziehung hervorgebracht und umgekehrt. Diese Perspektive eröffnet Chancen. Eine Diagnostik als Beziehungsgestaltung ist anders als die westlich tradierte Diagnostik nicht defizitorientiert und nicht auf Kategoriebildung angewiesen. Damit ist sie prädestiniert für den Paradigmenwechsel, den die Vereinten Nationen mit der Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen anstreben: Die Inklusion.
Diese neu verstandene und neu ausgerichtete Diagnostik hat durch ihre Nähe zur Dialektik Wurzeln, die über zweieinhalbtausend Jahre zurückreichen und wesentliche Konkretisierung in den 1920er Jahren gefunden haben, wie Petra Fuchs herleitet. Neben den Wissenschaftlern der Kulturhistorischen Schule der damaligen Sowjetunion im Allgemeinen und einer Forschergruppe in der Charité im Besonderen beschreibt sie den Stand der Diagnostik vor ihrer Zurückdrängung durch die Nationalsozialisten im Zweiten Weltkrieg. Heute ist die Diagnostik als Beziehungsgestaltung aktueller denn je. Sie weist entwicklungsfördernde Parameter auf und wird von der diagnostizierten Person in der Regel äußerst positiv konnotiert. Sie birgt jedoch unbequeme und anspruchsvolle Vorgehensweisen und entsprechende Verantwortung für den Diagnostizierenden. Das diagnostische Handeln ist nicht nur Mittel zum (diagnostischen) Zweck, sondern der entwicklungsfördernde Dialog ist zentraler Bestandteil des diagnostischen Prozesses. So muss auch die professionelle Distanz des Diagnostizierenden neu erfunden werden. Norbert Störmer, Ingolf Prosetzky und Susanne Römer zeigen eindrucksvoll auf, welche Veränderung und Stärkung bestimmte hochschuldidaktische Überlegungen und Konzepte haben, welches konzeptionelle Rüstzeug der Studierende auf dem Weg in die Praxis benötigt, und welche Schwierigkeiten sich Berufsanfängern in den Weg stellen. Melanie Schrimpf und Carsten Rensinghoff ergänzen das Portfolio durch die „Diagnostik in eigener Sache“ und damit einer betroffenenkontrollierten Forschung, bei der das wissenschaftliche Handeln durch behinderungserfahrene Experten erfolgt. Methodische Basis für Rensinghoffs PEER-Ansatz ist die Rehistorisierende Systemische Syndromanalyse, einer Verbindung aus rehistorisierender Diagnostik und Systemischer Syndromanalyse, in die gekonnt eingeführt wird.
Für das Verwaltungshandeln von Einrichtungen und Institutionen ist eine Diagnostik, die nicht auf die tradierten Verfahren und Vorgehensweisen setzt, eine Herausforderung. So fordert Susanne Römer folgerichtig für ihre Umsetzung Rückendeckung aus Wissenschaft und Politik. Doreen Stahl stellt einem defizitorientierten Gutachten ein heilpädagogisches Gutachten gegenüber, das in einem dialogischkooperativem Prozess entstanden ist und auf die Bestimmung der nächsten Zone der Entwicklung ausgerichtet ist. Sie zeigt damit, wie der Übergang der Diagnostik in das heilpädagogische Handeln erfolgt, prozessimmanent und zyklisch. Doreen Stahl stellt hier eine angepasste Matrix für eine Kindertagesstätte vor.
Eine Diagnostik als Beziehungsgestaltung ist für viele Einrichtungen und Institutionen zurzeit allenfalls in deutlich abgegrenzten Bereichen denkbar. Wird weitgehend auf klassische Kategorisierung auf Basis standardisierter Herangehensweisen verzichtet, sind wesentliche Bemessungsgrößen für Ressourcenzuweisung, Leistungsprognosen und Einschätzung der Selbstständigkeit außer Kraft gesetzt bzw. individualisiert. Dass sich der Weg für den Klienten lohnt, erfährt der Leser überzeugend anhand anschaulicher Fallbeispiele, wie sie die Autoren aufzeigen. Manfred Jödecke führt eine ganze Reihe an reichhaltigen und verdichteten Beispielen für eindrückliche Biographien auf – vom literarischen Klassiker Dibs bis zu Größen der aktuellen Szene wie Raul Aguayo-Krauthausen. Nicole Friedrich ergänzt die Perspektiven durch Schilderungen klassischer Diagnostik und ihre Auswirkung aus der Perspektive einer Betroffenen. Lara-Marie Schwineköper betont die Notwendigkeit eines interdisziplinären Austausches für diese diagnostische Arbeit und hilft dem Leser durch ihren Blick als Studentin auf das Thema, sich in den Beiträgen des Buchs zurecht zu finden. Wesentliche Aussagen der Autoren dieses Herausgeberbands werden durch sie vorab zusammengefasst.
Beziehung heilt, wie die Pädagogen oft und unter Ausblendung des auch kritisch zu reflektierenden Heilsbegriffs zu Recht sagen. Nach der Lektüre des von Susanne Römer herausgegebenen Buchs haben Sie als pädagogisch interessierte Leserin oder Leser nicht nur einen guten Einblick in die Thematik inklusionskompatibler Diagnostik erhalten. Sie haben auch ein Angebot kennengelernt, mit dem Sie den pädagogischen Weisheiten eine hinzufügen können: Die als Beziehungsgestaltung angelegte Diagnostik heilt auch.
Dagmar Brunsch
zurück