Mit steigenden Zahlen von Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf in der inklusiven Schule steigt auch die Zahl der Schulbegleitungen. Häufig werden Schulbegleitungen von externen Arbeitgebern eingestellt und sind nicht Teil des schulischen Kollegiums, wohl aber Teil des multiprofessionellen Klassenteams. Es bestehen große Unterschiede in der Beantragungs- und Bewilligungspraxis sowie Unklarheiten darüber, welche Aufgabe Schulbegleitungen wahrnehmen und wie sie in schulische Strukturen eingebunden werden. Für diese Fragen und Herausforderungen bietet die (sonder-)pädagogische Literatur bislang nur wenige Hilfestellungen. Umso erfreulicher, dass Marian Laubner, Bettina Lindmeier und Anika Lübeck den Sammelband „Schulbegleitung in der inklusiven Schule. Grundlagen und Praxishilfen“ herausgegeben haben.
Im ersten Teil „Schulbegleitung in der inklusiven Schule – Grundlagen“ zeigen Anika Lübeck und Christine Demmer anhand von (inter)nationalen Forschungsergebnissen erhebliche Variationen in Bezug auf die Arbeitssituation und die Qualifikation von Schulbegleitungen auf. Entgegen den administrativprogrammatischen Vorgaben sind viele Schulbegleitungen auch pädagogisch-unterrichtlich tätig. Sylvia Thiel stellt die Rechtslage zur Beantragung und Bewilligung von Schulbegleitung in Niedersachsen vor. Diese Maßnahme der Eingliederungshilfe leitet sich je nach Art des Unterstützungsbedarfs aus dem SGB VIII (Kinder- und Jugendhilfe) oder SGB XII (Sozialhilfe) ab. Als „Hilfe zur angemessenen Schulbildung“ wird eine Schulbegleitung nachrangig zu allen schulischen Maßnahmen gewährt und ist ausschließlich auf das Kind bezogen. Die unterschiedlichen Zielsetzungen und Systemlogiken von Eingliederungshilfe /Jugendhilfe und Schule sowie die fehlende gemeinsame Definition von Behinderung/ Unterstützungsbedarf bringen strukturelle Barrieren mit sich und erschweren die Zusammenarbeit. Als Alternative zur Individualleistungsgewährung diskutiert Thiel eine Bündelung von Bedarfen der anspruchsberechtigten Kinder einer Klasse oder einer Schule im Poolmodell. Wolfgang Dworschak arbeitet anhand bayerischer Studienergebnisse heraus, dass der Umfang der bewilligten Schulbegleitungsstunden bei der Schülerschaft im Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung von unterschiedlichen Faktoren wie beispielsweise der Bewilligungspraxis einzelner Regierungsbezirke und dem diagnostizierten Unterstützungsbedarf abhängt. In der Studie haben die schulbegleiteten Kinder in der Inklusion im Vergleich zu Kindern mit Schulbegleitung an Förderschulen einen geringeren Hilfe- und Unterstützungsbedarf. Dworschak spitzt zu: Schülerinnen und Schüler mit dem Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung können die Allgemeine Schule besuchen, „wenn sie eine Schulbegleitung mitbringen, die ihre Defizite so weit ausgleicht, dass sie in das bestehende Konzept der Allgemeinen Schule ohne größere Anstrengung zu integrieren sind“ (S. 48). Eva-Maria Geist befasst sich mit Fragen der Qualifikation und Qualifizierung von Schulbegleitungen. Da das Berufsbild lediglich im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe das Fachkräftegebot beinhaltet und ansonsten keinerlei Standards unterliegt, ergibt sich in Bezug auf die Qualifikationen und Qualifizierungsangebote ein sehr heterogenes Bild. Geist fordert daher bundesweite Qualitätsstandards für Schulbegleitungen.
Der zweite Teil nimmt Fragen der „Kooperation mit Schulbegleitung“ in den Fokus. Anika Lübeck äußert Verständnis für die Forderung nach einer stärkeren Einbindung der Schulbegleitungen in schulische Kollegien und konzeptionell-pädagogische Planungen – insbesondere mit Blick auf die Arbeitsatmosphäre und eine arbeitsbegleitende Qualifizierung der Schulbegleitungen. Dabei besteht ihrer Meinung nach jedoch „Gefahr, ein Hilfskonstrukt zu institutionalisieren, das in seiner derzeitigen Form nicht mit einer langfristig gedachten inklusiven Schulentwicklung vereinbar ist“ (S. 71) und zur Deprofessionalisierung beiträgt. Karina Meyer, Sonja Nonte und Ariane Willems zeigen anhand von Ergebnissen der Göttinger Schulbegleitungsstudie auf, dass Schulbegleitungen ihre Arbeit umso positiver erleben, je ausgeprägter die Kooperation zur jeweiligen Klassenleitung ist. Zudem wirft der Beitrag Fragen nach strukturellen Rahmenbedingungen für Kooperation auf.
Im dritten Teil stehen die „Spannungsfelder und Herausforderungen für die Arbeit von und mit Schulbegleitungen“ im Mittelpunkt der Betrachtung. Andreas Köpfer nimmt die räumliche Dimension von Schulbegleitungs-Handeln in den Blick und arbeitet Möglichkeiten der Differenzierung und Individualisierung heraus, aber auch Stigmatisierungsprozesse, Hindernisse für die inklusive Unterrichtsgestaltung und Barrieren in der Kommunikation der Kinder untereinander. Kathrin Schulze zeigt auf, dass Schulbegleitungen durch ihre Arbeitssituation in besonderem Maße mit der Antinomie von Nähe und Distanz konfrontiert sind. Es bedarf einer reflexiven Bearbeitung dieses Spannungsverhältnisses, damit nicht „ein Zuviel an Nähe und ein Zuwenig an entwicklungsfördernder Distanz“ (S. 103) die Selbstständigkeitsentwicklung beeinträchtigen. Nina Blasse analysiert anhand ethnographischer Unterrichtsbeobachtungen in Schleswig-Holstein vielfältige Tätigkeiten und Aufgaben von Schulbegleitung und fordert ein geschärftes Aufgabenprofil für Schulbegleitungen. Diese benötigen zumindest eine basale pädagogische Ausbildung, um Unterricht in fundierter Weise begleiten zu können. Jan Hoyer entwickelt Reflexionskriterien, die in der multiprofessionellen Zusammenarbeit bei der gemeinsamen Zielfindung und der Bearbeitung von Konflikten dienlich sind. Der Bedarf an gemeinsamer Reflexionszeit muss von allen Organisationen als Arbeitszeit anerkannt werden.
Im vierten Teil findet die „Perspektive der Schüler/innen“ Berücksichtigung. Ursula Böing und Andreas Köpfer rekonstruieren anhand von Interviewausschnitten, wie Schulbegleitungen aus Sicht der begleiteten Schülerinnen und Schüler erlebt werden. Die Ergebnisse verdeutlichen die Spannungsfelder und Ambivalenzen des Schulbegleitungshandelns und zeigen die Notwendigkeit von Professionalisierung und inklusiver Schulentwicklungsprozesse auf. Bettina Lindmeier und Katrin Ehrenberg stellen anhand von Rekonstruktionen zweier Gruppendiskussionen dar, dass Mitschülerinnen und Mitschüler ein Bewusstsein dafür haben, welcher Erwachsene für welche Kinder zuständig ist und Ungleichbehandlungen sehr differenziert wahrnehmen. Es lassen sich zudem stigmatisierende Wirkungen durch die kindbezogene Unterstützung durch Schulbegleitungen nachweisen. Mittelfristig sollten Schulbegleitungen durch systemisch arbeitende Pädagogische Mitarbeiter abgelöst werden.
Im fünften Teil, dem „Ausblick“, konstatieren Bettina Lindmeier und Wolfgang Dworschak, dass die Maßnahme der Schulbegleitung „aus struktureller Sicht bisher nicht gut in das Feld Schule implementiert ist“ (S. 150). Sie betonen, dass kritische Anmerkungen zur derzeitigen Situation nicht die Anstrengungen aller Beteiligten schmälern, sondern im Gegenteil aufzeigen sollen, „dass es strukturelle Probleme gibt, die zum Teil außerhalb der Reichweite der Akteur/innen liegen, mit denen diese aber dennoch leben und arbeiten müssen“ (S. 157). Lindmeier und Dworschak ist bewusst, dass Schulbegleitungen „derzeit und für das kommende Jahrzehnt aus unseren Schulen kaum wegzudenken“ (S. 58) sind und daher „praktikable Zwischenlösungen“ – wie etwa Poolmodelle – zu entwickeln sind. In der konzeptionellen Weiterentwicklung muss Schulbegleitung im Sinne der UN-BRK als eine angemessene Vorkehrung verstanden werden und als Teil der Entwicklung eines inklusiven Schulsystems. Langfristig sollte das Schulsystem inklusive Bildung mit eigenen Mitteln erfüllen, so dass Schulbegleitungen nach und nach obsolet werden.
Im abschließenden Teil stellen Eva-Maria Geist, Marian Laubner, Sandra Polleschner und Mareike Wanke „Praxismaterialien“ zur Kooperation mit Schulbegleitungen vor, etwa Bausteine für ein Startgespräch mit dem pädagogischen Team und für Elterngespräche.
Der vorliegende Sammelband, der sich an alle beteiligten Akteure in der inklusiven Schule und in der Wissenschaft richtet, wird seinem Anspruch gerecht, „die Maßnahmen der Schulbegleitung in einer bisher nicht gekannten Breite und Tiefe“ (Dworschak & Lindmeier, S. 150) zu analysieren. Die vielfältigen Artikel und Praxismaterialien bieten wertvolle Anregungen für die Reflexion, praktische Umsetzung und konzeptionelle Weiterentwicklung von Schulbegleitungsmaßnahmen.
Rebecca Babilon
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