Schon die Einleitung zeigt durch die dreiteilige Gestaltung (Warum dieses Buch? – Einige sprachliche Überlegungen – Therapie und Beratung bei Menschen mit geistiger Behinderung) die anspruchsvolle Auseinandersetzung, die die Autorin führt und deren Ergebnisse sie in dem Buch zur Verfügung stellt.
Kurz und differenziert beschreibt Veronika Hermes im ersten Teil die Eckpfeiler der systemisch-ressourcenorientierten Therapie, wie sie in der Praxis benötigt werden. In fast jedem Abschnitt wird der Bezug zu Menschen mit geistiger Behinderung direkt, explizit erörtert. So können sich Berater und Therapeuten mit der Frage beschäftigen: Wie kann Neutralität in der Arbeit mit Menschen mit geistiger Behinderung gewahrt bleiben? Dadurch, dass die Beratung oft zum Angebot der betreuenden Einrichtung gehört und dass Menschen mit geistiger Behinderung in vielen Dingen mehr Unterstützung als andere Klienten benötigen, sind die Facetten viel diffiziler als bei anderen Klienten. Mittels der vielfältigen, eigenen beraterischen Erfahrungen werden die Ausführungen sehr gut verständlich und leicht auf die eigene Tätigkeit als Berater oder Therapeut übertragbar.
Teil 2 widmet sich noch spezifischer der Anpassung des Rahmens. Menschen mit geistiger Behinderung benötigen, sofern sie sprachlich kommunizieren, eine deutlich verständliche, einfache Sprache von Seiten des Beraters. ‚Leichte Sprache‘ skizziert Veronika Hermes in ihren Grundzügen und zeigt danach auf, wie sie in Beratung und Therapie genutzt werden kann. Dies ist sicherlich nicht nur für professionelle Gespräche mit Menschen mit geistiger Behinderung von Relevanz. Besonders interessant erscheinen die Überlegungen zum Setting. Der zeitliche Rahmen gestaltet sich oft anders, weil die Aufmerksamkeit nicht für die üblichen 45 Minuten gegeben ist, muss eine Modifikation erfolgen. Im Rahmen einer Beratung innerhalb der Einrichtung kann eine längere Beratung mit größeren Abständen zwischen den einzelnen Terminen durchaus vielfältig begründbar sein, auch wenn dies im Grunde der klassischen Definition von Beratung widerspricht. Dadurch erfolgt Beratung oder Therapie nicht immer erst, wenn Schwierigkeiten auftreten, sondern die Menschen mit geistiger Behinderung sind sich sicher, dass sie regelmäßig die Gelegenheit zu klärenden Gesprächen erhalten. Das hat deutlich präventiven Charakter und verhindert zudem, dass Menschen Probleme zeigen, um in den Genuss von Einzelgesprächen zu kommen. Die Auftragsklärung muss auf alle Fälle im gemeinsamen Gespräch erfolgen, auch wenn sie sich auf Grund kommunikativer oder kognitiver Einschränkungen deutlich schwieriger entwickeln kann. Die Schweigepflicht steht bei Menschen mit geistiger Behinderung und vor allem innerhalb einer Einrichtung vor besonderen Herausforderungen, die es im Sinne des Klienten positiv zu lösen gilt. ‚Nichts ohne Einwilligung und am besten immer in Anwesenheit des Betroffenen‘ beschreibt eine sehr professionelle Einstellung, die den Menschen mit geistiger Behinderung in den Mittelpunkt stellt. Natürlich bedürfen auch die Materialien, die üblicher Weise in Beratung und Therapie eingesetzt werden, einer Reflexion und einer Anpassung an den Personenkreis. Hier findet der Leser viele hilfreiche Anregungen. Veronika Hermes weist abschließend auf die Besonderheiten in der emotionalen Entwicklung hin, die zu wichtigen Implikationen für die Gespräche führen.
Im dritten Teil werden ausführlich und praxisorientiert die konkreten Methoden und ihre Anpassung vorgestellt. Hier erkennt der bereits erfahrene Berater sofort, dass die wichtigsten systemischen und ressourcenorientierten Methoden einbezogen sind. Neben einer klaren, kurzen Erläuterung, was darunter zu verstehen ist, wird vor allem die Anpassung für Menschen mit geistiger Behinderung direkt im Anschluss erarbeitet und mit Beispielen aus der Praxis sehr gut veranschaulicht. Veronika Hermes zeigt beispielsweise auf, wie mittels Entspannungsübungen und Fantasiereisen die vorher im Gespräch beschlossenen Handlungsstrategien vertieft werden können. So gelingt es, bei guter Aufmerksamkeit im Gespräch einzelne Schritte vorzubereiten und mittels des Methodenwechsels zur Entspannung oder zur Fantasiereise eine andere Form der Wiederholung zu wählen, der die Klientin wieder die volle Aufmerksamkeit zuwenden kann. ‚Walk and Talk‘ gehört zu den Methoden, die den klassischen Beratungsrahmen gezielt verlassen, für Menschen mit geistiger Behinderung, die sich draußen nicht ablenken lassen, erscheint dies eine sehr gute Weise, um ohne direkten Blickkontakt dennoch ein intensives Gespräch zu führen. Gleichzeitig können einige Personen ihren Bewegungsdrang befriedigen. Ein gut vorbereiteter Abschluss sichert die erreichten Ergebnisse, bei Menschen mit geistiger Behinderung erscheint es berechtigt, dass einzelne Termine in größeren Abständen, eine bessere Ergebnissicherung und gegebenenfalls eine präventive Wirkung haben können. Die Beratung oder Therapie setzt nicht erst an, wenn bereits größere Probleme beim Wohnen oder Arbeiten aufgetreten sind, sondern von Zeit zu Zeit wird reflektiert, wie gut die Handlungsstrategien noch nützlich sind und ob manche wieder stärker aktiviert werden müssen, um bestimmten Ereignissen vorzubeugen.
Insgesamt legt Veronika Hermes in der Tat ein Praxishandbuch vor, das sowohl den Novizen in der Beratung und Therapie von Menschen mit geistiger Behinderung ein solides systemisch-ressourcenorientiertes Handwerkszeug bietet, das sie direkt ausprobieren können, als auch den erfahrenen Beratern in Einrichtungen mit Menschen mit geistiger Behinderung einzelne, wertvolle Anregungen bietet und eine gründliche Reflexion der eigenen Tätigkeit anregt. Aber auch über die Zielgruppe hinaus gilt, dass die systemischressourcenorientierte Praxis kurz und präzise vorgestellt wird, so dass jeder profitieren kann, der sich grundlegend mit dieser beraterischen, therapeutischen Ausrichtung beschäftigen will oder sie in seine professionelle Gesprächsführung einfügen möchte.
Almuth Schlagmüller
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