Der Fachdiskurs in der Sonderpädagogik über den Förderschwerpunkt Lernen hat sich in den zurückliegenden Jahrzehnten grundlegend verändert. Internationale Perspektiven haben an Bedeutung gewonnen. Durch neuere sozialwissenschaftliche Erkenntnisse als auch die damit verbundene Integrations- und Inklusionsdebatte und die Ratifizierung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen sind die im deutschsprachigen Raum über Jahrzehnte vorherrschenden förderschulzentrierten Sichtweisen der ehemaligen Lernbehindertenpädagogik nicht mehr als tragfähig für die Bewältigung anstehender Aufgaben anzusehen.
Insofern lastet ein erheblicher Druck auf Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die zum Förderschwerpunkt Lernen forschen und lehren, die Grundlagen einer inklusions- und auch präventionsorientierten Praxis im Förderschwerpunkt Lernen neu zu bestimmen und differenziert und fachlich solide darzustellen.
Diese Aufgabe ist hoch anspruchsvoll, denn es gilt, die vorhandenen umfassenden komplexen Forschungs- und Diskussionsstände über Lernstörungen bzw. –schwierigkeiten zu analysieren und in Anbetracht eines neuen Entwicklungsstadiums der Sonder- und Heilpädagogik neu zu bewerten und zu ordnen.
Ulrich Heimlich ist dies mit seinem Buch „Pädagogik bei Lernschwierigkeiten“ für den Förderschwerpunkt Lernen ausgezeichnet gelungen.
Der Autor geht kritisch auf den bisherigen Fachdiskurs ein, stellt dabei frühere und zumindest teilweise immer noch relevante Auffassungen und Konzepte gut verständlich und kompakt dar, um dann seine eigenen inklusionsorientierten grundlegenden Überlegungen zu erläutern. Dies gelingt ihm wissenschaftlich solide und dennoch praxisnah.
Das erste Kapitel ist Erkenntnissen über die Gruppe der Kinder und Jugendlichen mit Lernschwierigkeiten gewidmet. Deren erschwerte Lern- und Lebenssituation einschließlich von Bedingungsfaktoren und Erklärungsmodellen für Lernschwierigkeiten werden differenziert dargestellt. Die Ausführungen beziehen sich hier vor allem auf konkrete schulische Probleme in den Bereichen Lesen, Rechtschreiben und Rechnen als auch in der Gestaltung von Lernsituationen (Lernen lernen), auf Aufmerksamkeitsprobleme sowie Störungen der emotionalen und sozialen Entwicklung, ohne dass Fragen von sozialer Benachteiligung, Armut und Lebenswelt ausgespart werden.
Erfreulicherweise widmet Heimlich das zweite Kapitel der Historie des Umgangs mit Lernschwierigkeiten. Seine hierzu sehr wissenswerten kritisch reflexiven Darstellungen früherer Grundlagen der Hilfsschule bzw. der Schule für Lernbehinderte und sich daran anschließender Organisations- und Handlungskonzepte heben auf Inhalte ab, die nicht in Vergessenheit geraten dürfen. Ansonsten bestünde die Gefahr, Fehlentwicklungen des 20sten Jahrhunderts zu wiederholen.
Die Praxisnähe des Buchs ist auch im Kapitel über Förderkonzepte bei Lernschwierigkeiten greifbar. Die Diskussion um Förderdiagnostik als Grundlage für Förderplanungen wird kritisch betrachtet und bewährte Vorgehensweisen beschrieben. Die hohe Bedeutung einer theoriegeleiteten Diagnostik und Förderplanung wird systematisch herausgearbeitet. Diese Überlegungen verbindet der Autor mit didaktischen Aussagen, in denen es auch um die optimale Passung zwischen dem schulischen Förderangebot und den schulischen Lernvoraussetzungen der Schülerinnen und Schüler geht. Die Stärke der Ausführungen liegt auch hier in der Analyse vorhandener Modelle und klaren Schlussfolgerungen für einen inklusiven Unterricht.
Im vierten Kapitel führt Heimlich die Pädagogik bei Lernschwierigkeiten sehr dicht an die allgemeine Schulpädagogik und Didaktik heran. Neben dem Thema Inklusion hebt er hier vor allem auf Frühförderung und Prävention von Lernschwierigkeiten in der Allgemeinen Schule ab. Hierdurch begründet er neue Organisationsformen sonderpädagogischer Förderung, die er zudem differenziert vorstellt. Die präventions- und inklusionsorientierte Ausrichtung des Kapitels führt zu Fragen der Rehabilitation und beruflichen Förderung in Schule und Betrieb sowie im Alltag. Auch in diesem Teil des Buchs gelingt es dem Autor, verschiedenen Ansätzen zur Prävention, Inklusion und Rehabilitation und damit verbundenen Organisationsformen einen angemessenen Platz in einem Netzwerk der Hilfen für Menschen mit gravierenden Lernschwierigkeiten zuzuordnen und damit deren jeweiligen Stärken pragmatisch zu nutzen.
In dem Abschlusskapitel geht es um die Frage der (erkenntnis-) theoretischen Grundlegung einer Pädagogik bei Lernschwierigkeiten. In seinen Ausführungen über materialistische, interaktionistische, systemtheoretische und ökologische Perspektiven im Förderschwerpunkt Lernen zeigt sich erneut die Fähigkeit des Autors, schwierige Inhalte gut verständlich darzustellen. Gleiches gilt für seine Diskussion konstruktivistischer versus realistischer Standpunkte in der Heil- und Sonderpädagogik. Letztlich argumentiert Heimlich überzeugend für eine pragmatische und realistisch mehrperspektivische Betrachtung von Lernschwierigkeiten als sozialer Tatsache, wobei er allerdings neuere medizinische und kognitionspsychologische Sichtweisen ausspart.
Dem Autor gelingt es, mit seiner Schrift mehrere Anliegen zu vertreten. Er informiert kompakt über den Fachdiskurs im Förderschwerpunkt Lernen, liefert Begründungen und Ansätze für Prävention, Inklusion und Rehabilitation und fordert zum pragmatischen und mehrperspektivisch reflexiven Handeln in der Praxis auf. Folgendes Zitat steht für das Anliegen einer theoretisch reflektierten Praxis: „Handlungskompetenz ohne die Fähigkeit zur kritischen Reflexion bleibt früher oder später in Routine stecken. Eine Reflexionskompetenz ohne die Fähigkeit, das Gedachte in Handlungsabläufe einzubringen, verfehlt den professionellen Auftrag gleichermaßen“ (S.211). Das rezensierte Buch leistet in verschiedener Hinsicht einen Beitrag zu einem reflexiven inklusionspädagogischen Pragmatismus im Kontext von Lernschwierigkeiten. Stilmittel wie einführende Zusammenfassungen zu Beginn eines Kapitels, Kästen mit Kurzinformationen beispielsweise zu dem Leben und Werk einflussreicher Pädagoginnen und Pädagogen als auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler oder Sachverhalten, die „auf den Punkt gebracht“ werden, wie auch Praxisbeispiele, Tabellen und Abbildungen, Übungsaufgaben für Studierende nebst Lösungen im Anhang sowie Literaturempfehlungen machen das Buch zu einer leserfreundlichen, hoch informativen Einführung in die aktuelle Fachdiskussion im Förderschwerpunkt Lernen und gleichzeitig zu einem Entwurf einer inklusionsorientierten Pädagogik bei Lernschwierigkeiten.
Das Buch ist sowohl für Lehrkräfte aller Schularten als auch Lehramtsstudierende äußerst empfehlenswert.
Bodo Hartke
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