Die vorliegende Publikation von Ferdinand Klein wurde im Geiste Martin Bubers, Janusz Korczaks und vor allem der Klassiker der Schweizer Heilpädagogik geschrieben. Herausgeber ist das Internationale Archiv für Heilpädagogik in enger Verbindung mit dem Emil E. Kobi Institut.
Es handelt sich um einen Dialog zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, wobei nationale und internationale Aspekte, speziell Kulturen eine große Rolle spielen und vor allem auch ein Einblick in Kleins Denken und Handeln deutlich wird.
Das erste Kapitel thematisiert Heilpädagogik aus selbstreflexiver Sicht des Autors. Klein betont die Bedeutung qualitativer Forschung, um vor allem heilpädagogisches Denken und Handeln bewusst zu machen, d.h. es geht ihm auch um die Auseinandersetzung mit sich selbst und seiner Forschungspraxis mit der Zielrichtung Verstehen und Erkenntnisgewinn. Wissenschaftler und Praktiker erfahren dabei das, was wirklich ist und das, was möglich ist. Man kann J. Locke assoziieren mit seinem berühmten Satz: Nihil est in intellectu, quod non prius fuerit in sensu, d.h. nichts gelangt in unser Bewusstsein, was nicht zuvor mit den Sinnen erfasst oder erfahren wurde.
Erfahrung ist demnach alles, hinzu kommt aber der Dialog. Klein zieht ein wichtiges Fazit für die „Heilpädagogik im Dialog“: Heilpädagogische Praxis geht von Erfahrungen aus, und Heilpädagogik wird als eine dialogisch orientierte Handlungswissenschaft verstanden.
Der Autor sieht das Selbstverständnis der Heilpädagogik in der „immerwährenden Aufgabe“ für Menschen mit Behinderung. Pädagogisches Denken und Handeln muss von der Lebens-, Beziehungs-und Erziehungswirklichkeit ausgehen. In die Fundierung seiner Ausführungen bezieht Klein Comenius, Georgens und Deinhardt sowie die Schweizer Heilpädagogen Heinrich Hanselmann und Paul Moor, ferner auch Martin Buber ein. In der Darstellung seiner beruflichen Tätigkeit unter den Bedingungen der von ihm erlebten Zeit, sieht Klein sein Denken und Handeln, sein Forschen und Lehrern als Einheit.
Prägende Erfahrungen zwischen dem Unterrichten in einer einklassigen Volksschule, dem Begleiten und Unterrichten von Menschen mit schwerer Behinderung sowie die verschiedenen Phasen als Universitätslehrer fließen in sein Werk ein. Klein bringt damit zum Ausdruck, dass pädagogisches Denken und Handeln von der Lebens-, Beziehungs- und Erziehungswirklichkeit ausgeht.
Er stellt einer evidenzbasierten Heil-und Sonderpädagogik eine Heilpädagogik als dialogisch-orientierte Handlungswissenschaft gegenüber, die Sinnbezug und ethische Verantwortung ausdrücklich einbezieht. Wissenschaft kann primär lediglich Hypothesen liefern, jedoch kein sicheres Steuerungs- und Wirksamkeitswissen, auch keine direkten Aussagen über Verhaltenssteuerung im Sinne von Anpassung vermitteln.
Das zweite Kapitel kann man als Plädoyer für das Bemühen um einen verstehensorientierten Diskurs der unterschiedlichen heilpädagogischen Entwicklungslinien in Osteuropa begreifen. Klein hebt darin hervor, dass der europäische Einigungsprozess und die Osterweiterung der Europäischen Union für die Heilpädagogik als konkrete Handlungswissenschaft eine Fülle an Grenzen überschreitenden Herausforderungen mit sich bringe. In Anlehnung an Karl Popper bemühe sich ein vernunftbegleitetes Denken um das Verstehen dessen, was gemeinsam erfahren wird.
So werden Unterschiede, die erlebte Verschiedenheit der Nationen und Kulturen als Möglichkeit für einen wechselseitigen Austausch und als Bereicherung im Sinne einer interkulturellen Erweiterung des Raums gesehen.
Konkretisiert wird dies im Rahmen der Ausführungen zur Geschichte der europäischen Heilpädagogik, aus der sich europäische Perspektiven auch im Rahmen der Arbeitstagungen der Lehrenden an Sonderpädagogischen Studienstätten seit 1960 ergaben.
Klein berichtet über Projekte, die für eine Bildungspartnerschaft stehen und den „Dialog der Kulturen“ fördern und pflegen. Er leitet aus der skizzierten Geschichte der europäischen Heilpädagogik Aufgaben und konkrete Forschungsfragen, allgemein Forschungsperspektiven ab. Klein plädiert für einen „Dialog der Kulturen“ in einem internationalen und interkulturellen Feld großer Herausforderungen, in denen die Wirklichkeit des vereinten Europa – mittels Dialog –durch Menschen Gestalt annehmen müsse. Es geht ihm um eine Länder verbindende Pädagogik für alle Menschen, die sich durch eine Kultur der Vielfalt in der Einheit auszeichnet, bei der aber auch das Besondere des anderen Landes erfahrbar wird. Dies verdeutlich der Autor an den Beispielen „Heilpädagogik in der Slowakei“ und „Heilpädagogik in Ungarn“.
Abschließend stellt Klein ein Manuskript aus früherer Zeit vor, das als reflexive Bestandsaufnahme, aber auch als Anregung für zukünftige Aufgabenfelder, Forschungen und Möglichkeiten der Heilpädagogik in Europa interpretiert werden kann. Die besondere Leistung besteht darin, dass Klein sein umfangreiches heilpädagogisches Wissen mit seinem wissenschaftlich reflektierten heilpädagogischen Denken und Handeln vernetzt. Es gelingt ihm in seiner Autobiographie, von sich selbst Abstand zu nehmen und gleichzeitig das Erzieherische als persönlich oder existenziell Erlebtes und Reflektiertes in überzeugender Weise darzustellen und für die Praxis bewusst zu machen.
Klein geht es um ein ganzheitliches und gleichzeitig sachlich reflektiertes Wahrnehmen des Menschen. Es wird deutlich, dass Heilpädagogik nicht nur Kindern geholfen hat und hilft, sondern dass sich mit der Zeit auch die Vorstellung von Behinderung revolutionär verändert hat.
Dem Autor ist es gelungen, die Komplexität und Multidimensionalität des Erziehungsgeschehens im heilpädagogischen Arbeitsfeld in Theorie und Praxis verstehensorientiert aufzuzeigen. Gerade im Hinblick auf die enormen Herausforderungen der Gegenwart im Bereich Erziehung ist dieser Publikation eine weite Verbreitung zu wünschen. Studierende der Heilpädagogik in Ost- und Westeuropa, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Lehrerinnen und Lehrer, Erzieherinnen und Erzieher werden dieses Buch mit großem Gewinn lesen.
Konrad Bundschuh
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