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Inklusion - Vision und Wirklichkeit
Sieglind Luise Ellger-Rüttgardt

Ich nehme das Gesamturteil vorweg: Die Lektüre weckt Begeisterung, glänzend geschrieben, flüssig zu lesen, Engagement ist spürbar, reich an Kenntnissen und Anregungen. Ich habe Neues und Wesentliches erfahren, etwa in den Kapiteln 6 und 8.
Im Detail beziehe ich mich auf die einzelnen Teile. Die Eingangsabschnitte bieten nichts Neues, was nicht schon oftmals publiziert worden ist. Im dritten Kapitel „das Recht auf Teilhabe: die UN-Behindertenrechtskonvention“ liest man dagegen eine gelungene Klarstellung zum Verständnis des Textes (ähnlich schon durch Otto Speck formuliert).
Jeder, der sich auf die Konvention bezieht, sollte eine solche Analyse zur Kenntnis nehmen. Besser kann man die gegenwärtige Lage kaum resümieren, dass die Entwicklung zu einer inklusiven Gesellschaft und somit auch zur inklusiven Schule nur als langwieriger Prozess mit letztlich offenem Ausgang zu verstehen ist (S. 43 – 44). Sisyphos lässt grüßen.
Das zentrale Kapitel 5 „Gerechte Bildung: die inklusive Schule“ fordert meine Kritik heraus; eigentlich ist es der einzige wichtige Kritikpunkt, zumindest aber ein Diskussionsthema. Der leicht moralisierende Unterton, mit dem die Selektionstendenzen von Gesellschaft und Schule beklagt werden („das gesamte Schulsystem…seine bisherige ((??)) selektive Verfasstheit zu hinterfragen“, S. 78), dies übersieht, dass es sich um organisationssoziologische Zwangsläufigkeiten handelt. Ich folge hierbei Parsons und Luhmann: „Ohne Selektion können pädagogische Kriterien nicht realisiert werden“ (Luhmann / Schorr, Reflexionsprobleme im Erziehungssystem, 1988, S. 11).
Die selektive Verfasstheit unserer Organisationssysteme ist durch die arbeitsteilige Leistungsgesellschaft bedingt. Irgendwann und irgendwo muss schließlich entschieden werden, wer als Pilot einen Jet fliegt und wer Hilfsdienst in einer Gärtnerei leistet. Deshalb fungiert Schule als bürokratische Zuteilungsapparatur (Schelsky) und ihre Aufgabe der Enkulturation ist nur durch Selektion und Allokation zu erreichen (Fend). Dazu dienen unterschiedliche Leistungsstufen im Bildungssystem, Zeugnisse, Berechtigungsausweise usw.
In diesem Zusammenhang hängt bei der Autorin der Begriff der Gerechtigkeit gleichsam in der Luft. Hier wäre eine Berufung auf A. Flitner hilfreich („Gerechtigkeit als Problem der Schule und der Bildungspolitik“, 1985). Wie wusste schon Karl Marx: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen“.
Inklusion als Wertschätzung des Menschen unabhängig von Rasse, Geschlecht, körperlichem Zustand usw. darf nicht mit der gesellschaftlichen Position des Leistungsvermögens gleichgesetzt werden. Das Postulat der inklusiven Schule muss diese getrennten Bereiche beachten, die zwar zusammen gehören und sich gegenseitig beeinflussen. Es ist aber notwendig, ihre Zielsetzungen klar auseinander zu halten.
Teil 6 schildert am Beispiel der Stadtstaaten Berlin und Hamburg den „Widerspruch zwischen bildungspolitischer Programmatik und realer pädagogischer Praxis“ (S.89). Es ist dies für mich die wichtigste Lektüre, die eine beträchtliche Spannung von Vision und Wirklichkeit instruktiv und differenziert in der ernüchternden administrativen Bestandsaufnahme auf den Punkt bringt, ohne dabei den optimistischen Impetus des Veränderungswillens zu verlieren.
Das folgende Kapitel 7 zeigt dann überzeugend auf, wie viel allein personell zu verändern ist, wenn inklusive Bildung gelingen soll. Entscheidend sind letztlich die Lehrpersonen, die eine ungewohnte Aufgabe angesichts von Heterogenität und Vielfalt bewältigen müssen. Reformen der Lehrerbildung stehen wieder einmal an. Den Leser beschleicht ein gewisser Zweifel ob der zu erwartenden Schwierigkeiten. Vergleichende Erziehungswissenschaft ist in der Sonderpädagogik nach wie vor ein Desiderat. Über Frankreich und Luxemburg war bisher so gut wie nichts bekannt.
Das achte Kapitel ist insofern eine wertvolle Ergänzung zu den bisherigen Publikationen. Es überrascht nicht, dass unkritischer Übertragungsoptimismus, etwa am Beispiel Schweden, unangebracht ist. Träume und Wünsche werden widerlegt, weil es „kaum möglich ist, direkte Vergleiche …anzustellen“ (S. 143). Auch die Interdependenz von Schule und Gesellschaft wird noch einmal markant deutlich.
Die Geschichte der Lernbehindertenpädagogik ist im nächsten Abschnitt (Kapitel 9) konzis zusammengefasst: einerseits das unzweifelhafte schulorganisatorische Verdienst, sich vernachlässigter Schüler angenommen zu haben, andererseits eine tatsächlich geringe pädagogische Effizienz. Die Beschulung lernschwacher Schüler hat auch international keine befriedigende Lösung gefunden. Wesentliche Gründe dafür sind die nach der Schulzeit unzureichende Berufsbildung und eine weitgehend nicht gelingende Eingliederung in den Arbeitsmarkt. Insofern ist jede isolierte pädagogische Lösung zum Scheitern verurteilt. Ich bin angesichts dieses Dilemmas jedoch erstaunt über die resignative Folgerung – insbesondere für die Schule für Lernbehinderte –, dass „kleine, besondere Schuleinheiten für Kinder und Jugendliche, die aus allen Rastern der allgemeinen Schule fallen, nach wie vor unverzichtbar“ seien (S. 173).
Dieses pädagogische Resümee ist angesichts der gesellschaftlichen Lagerung des Problems nicht zwingend. Das ist auch ein erheblicher Unterschied gegenüber sonstigen emphatischen Bekenntnissen zur Inklusion, die von einer gewissen Autonomie des Schulwesens ausgehen. Inklusion in der Gesellschaft und Inklusion in der Schule laufen gleichsam parallel nebeneinander her, auch wenn pflichtschuldig die Kohäsion beider Bereiche betont wird. Ich wage die Prognose, dass sich die Inklusionsdebatte dahingehend ‚normalisieren‘ wird, dass die Förderschwerpunkte Lernen, Sprache und emotional-soziale Entwicklung künftig in den Aufgabenbereich der allgemeinen Schule hineinwachsen werden, während die klassischen Behinderungen Sehschädigung, Hörschädigung, Körperbehinderung und Geistige Behinderung vorwiegend auf Sondereinrichtungen beschränkt sein werden.
Das Resümee des Buchs (Kapitel 10) ist ein Versuch der ‚Mitte‘ – es erinnert an eine Volkspartei, die es vielen recht machen will. Inklusion ist ein erstrebenswertes Ziel, von breiter Zustimmung getragen. Aber seine Umsetzung muss „unterschiedliche Formen und Geschwindigkeiten in Kauf nehmen“ (S. 179). Der Ausgleich zwischen widerstrebenden Entwicklungen wird angesichts der bestehenden Verhältnisse einerseits aus einem unverbrüchlichen Bekenntnis zu einer inklusiven Schulgesellschaft bestehen, zum anderen aber die verfügbaren personellen und finanziellen Ressourcen zu berücksichtigen haben. Das bedeutet etwa, dass „voreilige Schließungen von … Förderschulen, ohne dass angemessene Strukturen an ihre Stelle getreten wären“ nicht die Lösung sein können (S. 180). Wer wird dieser ‚weichen‘ Fassung von Inklusion nicht zustimmen können?

Ulrich Bleidick

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