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Einführung in die Behindertenpädagogik
Wolfgang Jantzen (2016)

Es ist im deutschsprachigen Raum in den Erziehungswissenschaften im Allgemeinen wie in diversen pädagogischen Feldern im Speziellen leider kein akademischer Brauch, Vorlesungen zu publizieren. Im Gegenteil, sie geraten als Form akademischer Lehre heute mehr denn je ins Aus, werden als nicht zeitgemäß, vielleicht sogar als zu autoritär eingeschätzt oder zwingen die Zuhörer in eine für Lernen nicht mehr relevant erachtete Passivität. Sie passen nach Maßgabe des Bologna-Prozesses auch nicht mehr in ein vermeintlich individualisiertes, digitalisiertes Lernen, in Bezug auf das ich in Kenntnis vieler Universitäten und Hochschulen allerdings einen Partikularismus und Elementarismus feststellen muss, der zu meinen glaubt, dass sich die Komplexität des Ganzen aus seinen Teilen erschließen würde und verkennt, dass nur die Erfassung des Ganzen seine es konstituierenden Teile zu erklären und zu begreifen vermag.
Wissenschaft ist also ein Prozess des Aufsteigens vom Allgemeinen zum Konkreten, der gerade in der Pädagogik hinsichtlich seiner Bedeutung nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Bei aller Bedeutung, die themenspezifischen Monografien zuzumessen ist, ermöglichen transkribierte und ergänzend kommentierte Vorlesungen einen qualitativ anderen Zugang zu den thematisierten Sachverhalten und sie spannen in der Regel ein Feld auf, das Monografien vermissen lassen und von Zeitschriftenbeiträgen nicht erwartet werden kann - und dies keineswegs nur für Studierende.
Ich erinnere hier nur exemplarisch an die Vorlesungen zur Allgemeinen Psychologie von Aleksej N. Leont’ev, die ansonsten über das Werk verstreute Gedankengänge von seinem frühen Schaffen bis zu den letzten Publikationen in einen systematischen Zusammenhang bringen und auch neue Sichtweisen auf den thematisierten Gegenstand ermöglichen, die möglicherweise nicht beachtet worden oder verkannt geblieben wären; oder an die Vorlesungen von Michel Foucault, die er zur Geschichte der Gouvernementalität in den Jahren 1977 bis 1979 gehalten hat und u.a. unter der Thematik „der Geburt der Biopolitik“ bekannt geworden sind, die gerade die im Fach brisantesten und gleichwohl verschwiegendsten Themen transparent machen, die mit Sicherheit, Territorium und Bevölkerung und Formen der Ausgrenzung zu tun haben, wie sie Georgio Agamben, teils darauf fußend, im Homo sacer analysiert - deutlich gesagt: Fragen der Vernichtung des Menschlichen am lebenden Menschen durch Ausgrenzung und Entwertung in und durch die dominierenden Herrschaftsstrukturen und -strategien.

Die auf Vorlesungen basierende Einführung in die Behindertenpädagogik von Wolfgang Jantzen ist hier zu verorten. Und nicht nur das. Man kann sie als eine Art Brückenschlag zwischen den beiden erwähnten großen Vorlesungswerken von Leont’ev und Foucault sehen, der einerseits in gewisser Weise bezogen auf die Werke dieser Autoren vermittelnder Natur ist, andererseits aber eine klare Positionierung der (kritischen und materialistischen) Behindertenpädagogik nicht nur im Gesamt der Erziehungswissenschaften, sondern in Bezug auf die Humanwissenschaften als Ganzes ermöglicht.

Spätestens nach der Lektüre dieses Werks sollte begriffen worden sein, dass die Behindertenpädagogik eine synthetische Wissenschaft ist und mitnichten eine Fortschreibung der Heil- und Sonderpädagogik, mit der sie begrifflich immer wieder synonym gesetzt wird - und auch das eben nicht nur von Studierenden. Der Bezug der Vorlesungen zur Allgemeinen Behindertenpädagogik, die seit 2007 in einem Band vorliegt, ist deutlich und viele Sachverhalte dieses umfassenden Werkes dürften sich den Leserinnen und Lesern gerade durch die publizierte Vorlesung in ihren Gehalten und Dimensionen erschließen.

Der Einleitung stellt Wolfgang Jantzen ein Zitat von Lucien Sève voran, das darauf aufmerksam macht, dass die von uns als groß und genial erachteten Menschen dies vielleicht nur deshalb sind, weil die Mehrheit der übrigen Menschen durch die gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen sie ihre Persönlichkeit entwickeln mussten, verkrüppelt wurden, was die Frage aufwirft, ob nicht sie die normalen Menschen sind, deren Verkrüppelung der Aufklärung, der Erklärung und Überwindung bedarf. Ausgehend von der Sozial- und Ideengeschichte der Behinderung wird die neue Existenzbedrohung durch Veränderungen in der Sozialgesetzgebung und die mit der Singer-Debatte in Zusammenhang stehende „Neue Euthanasie” bis hin zur Bioethik-Konvention thematisiert.

Danach werden Fragen der Enthospitalisierung und Deinstitutionalisierung und damit verbunden der Integration behinderter Menschen in Kindergarten und Schule thematisiert, ehe ausgewählte einzelwissenschaftliche Aspekte der Behinderung zur Sprache kommen, wie deren psychologischen, soziologischen und human biologischen Grundlagen.

Abschließend werden Fragen der Diagnostik, Pädagogik und Therapie differenziell und exemplarisch thematisiert, am Beispiel der so genannten geistigen Behinderung und einer entwicklungsbezogenen Diagnostik mit Blick auf Fragen basaler Pädagogik und didaktische Fragestellungen.

Damit verweist das gesamte Werk auf die Notwendigkeit der Transformation pädagogischer Theorien und Denkmodelle wie ihrer institutionalisierten Praxis als Regel- und Heil- und Sonderpädagogik, um eine humane pädagogische Praxis gestalten zu können, die die Diversität menschlicher Existenz als selbstverständlich egreift. Der kann nicht durch einen Pluralismus an Pädagogiken, Schulformen und Schulstufen entsprochen werden, sondern mittels der in diesem Werk herausgearbeiteten zentralen Begriffe, die eine Analyse unterschiedlichster individueller und sozialer Lebensbedingungen erlauben, die, in Didaktik übersetzt, ein gemeinsames Lernen hne Ausgrenzungsprozesse erlaubt und jede und jeder ihre bzw. seine Entwicklungspotenziale herausbilden und entfalten kann. Die allerdings liegen als Möglichkeiten weder im Individuum verborgen noch im Wirklichen ffen zu Tage. Sie sind mithin nicht zu ‘fördern’, sondern entstehen im Prozess anerkennungsbasierten, solidarischen

Miteinanders im Unterricht; sehr zentral in dialog- und kommunikationsbasierten Kooperationen.

Auch dieses Werk von Wolfgang Jantzen trotzt der „Mauer von Ignoranz im sonder(schul)- und eilpädagogischen Schrebergarten” (S. 9) und den Vorbehalten gegen die resultierenden theoretischen und praktischen Implikationen. Hinter ein relationales Verständnis von Behinderung als soziale Konstruktion gibt es kein Zurück mehr!

Georg Feuser

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