Im Zuge der Umsetzung der UN-BRK stellt die Einbeziehung von Kindern und Jugendlichen mit einer diagnostizierten Lernbeeinträchtigung eine große Herausforderung für die Lehrkräfte dar. Um auch für diese Klientel zukünftig entwicklungsförderliche Lernsettings zu kreieren, empfiehlt sich dieses Lehrwerk mit seiner Fülle an Grundlagenwissen, historischen Bezügen, didaktischen Modellen und perspektivisch inklusiven Bildungsangeboten. Der Mehrwert der 4. Auflage besteht in der Neuaufnahme aktueller wissenschaftlicher Befunde zu förderlichen Entwicklungsbedingungen. Das Lehrwerk ist in fünf Kapitel gegliedert und wird ergänzt durch ein Glossar, umfangreiche Literaturquellen, einen Bildnachweis und ein zur Orientierung nützliches Sachregister.
Kapitel 1 befasst sich ausgehend von exemplarischen Fallbeispielen mit der historisch gewachsenen Terminologie von „Lernbeeinträchtigung“ in der definitorischen Abgrenzung zu vergleichbaren Begriffen wie „Learning disabilities“, der internationalen WHO-Klassifikation in Form der ICD 10 bzw. der ICF, die Umweltfaktoren und soziale Beziehungsgefüge thematisiert, bis hin zur aktuellen Terminologie des „Förderschwerpunkts Lernen“ der KMK-Empfehlungen. Eine begriffliche Entwicklung von individuellen zu kontextbezogenen Schwierigkeiten beim Lernen einschließlich des Anteils von Schule wird deutlich.
Kapitel 2 eröffnet die historische Entwicklungslinie von der Gründung erster Hilfsschulen Ende des 19. Jahrhunderts zur Entlastung der Volksschule in Würdigung der Verdienste von Stötzner und Kielhorn im Kontext gesellschaftlicher Utilitarisierung und Kriminalisierungsprävention. Erste Ansätze der Individualisierung und Differenzierung finden Eingang in den Unterricht. Über die „Hochblühte der Heilpädagogik“ in der Weimarer Republik, die unrühmliche Zeit des Nationalsozialismus mit seinen verwerflichen rassenhygienischen Aktivitäten, die Zeit der Restauration und des Ausbaus der Sonderschule wird die Entstehungsgeschichte der besonderen Pädagogik für die benannte Klientel bis hin zu integrativen Bestrebungen detailgetreu, praxisbezogen und kritisch wertend beschrieben.
Kapitel 3 widmet sich der Erkenntnistheorie und den theoretischen Positionen im Kontext von Lernbeeinträchtigung. Hier wird das Verständnis zur empirischen Forschung, zur kritischen Theorie, zu Paradigmen und zum Prozess der theoretischen Theoriebildung gefördert. Es schließt sich die Betrachtung der Lernbeeinträchtigung aus unterschiedlichen theoretischen Ansätzen an. Näher beleuchtet werden die sozio-kulturelle Situation und das typische Erscheinungsbild der Betroffenen. Neben der Thematisierung von Etikettierungs- und Stigmatisierungsprozessen wird Lernbeeinträchtigung aus materialistischer und systemisch-konstruktivistischer Sicht betrachtet. Ein Exkurs zur Überpräsenz von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund vertieft die Problematik.
Kapitel 4 liefert eine Fülle an ausgewählten didaktischen Konzepten, die sich der besonderen Lebensund Lernsituation der Betroffenen widmen. Beginnend mit Klauers „Pädagogik der Vorsorge“ über schüler- und handlungsorientierte Konzepte nach Kornmann und Ramisch zeigen die „entwicklungslogische Didaktik“ nach Feuser sowie das Modell der Schülerkooperation nach Wocken erste inklusive Ansätze im Subjekt-, Interaktions- und Tätigkeitsbezug. Es schließen sich Prinzipien und Strategien lern- und entwicklungsfördernden Unterrichts u. a. in Form von kooperativem und Selbstlernen, dem Bezug zur Lebenswirklichkeit, der Öffnung von Unterricht und dem Interessen- und Handlungsbezug an. Interessant wäre hier eine Zusammenführung erfolgreicher Kriterien zu einer allgemeinen inklusiven Didaktik.
Abschließend erfolgt in Kapitel 5 die Auseinandersetzung mit Gestaltungsansätzen und Leitlinien der inklusiven Bildung im Primar- und Sekundarbereich, aufbauend auf den Erfahrungen der Arbeit mit heterogenen Lerngruppen im gemeinsamen Unterricht und unter besonderer Berücksichtigung internationaler Studien und des Modells der Jugendschule nach Hiller. Dabei werden zugrundeliegende Werte, Mindest- statt Regelstandards sowie Fragen der Didaktik, der Schulentwicklung und der Professionalisierung der Lehrkräfte mitdiskutiert und Qualitätsmerkmale einer inklusiven Schule generiert. Insgesamt bietet das Lehrwerk einen umfangreichen Gesamtblick auf die Klientel der Lernbeeinträchtigten im gesellschaftlichen Kontext.
Beim Lesen erleichtern die Arbeit mit Themenstichpunkten und Piktogrammen, ein themenbezogener Literaturfundus und abschließende Fragestellungen die Orientierung im Text. Zahlreiche Praxisbezüge unterstützen die theoretischen Ausführungen. Problematisch gestaltet sich die Suche nach den Musterlösungen zu den Übungsaufgaben.
Zusammenfassend stellt dieses Lehrwerk eine große Bereicherung und Handlungshilfe in der Vorbereitung auf die zukünftige inklusive Unterrichtung von Schülerinnen und Schülern mit Schwierigkeiten im Lernen dar.
Dr. Cornelia Winkler
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