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Evidenzbasierte Pädagogik. Sonderpädagogische Einwände
Ahrbeck, B., Ellinger, S., Hechler, O., Koch, K. und Schad, G. (2016).

Thema der von sonderpädagogischen Wissenschaftlern zusammengestellten Beiträge sind nicht Details der Methode der heute favorisierten evidenzbasierten Forschung, sondern deren Verquickung mit allgemeinen Ökonomisierungs- und Standardisierungstendenzen, die zu einer grundlegenden Veränderung des Menschenbilds und damit des tradierten wissenschaftlichen Verständnisses von Bildung führen könnten.
Die Kritik richtet sich gegen den überzogenen Anspruch dieses Forschungsansatzes, allein zuständig zu sein für die Bereitstellung des nötigen „Steuerungswissens“ im Bereich der Bildung sowie gegen dessen unreflektierte Verwertung sowohl in der Bildungspolitik als auch in der pädagogischen Praxis. Es werden die Gefahren herausgestellt, die mit einer solchen Reduzierung pädagogischen Denkens und Handelns auf primär pragmatisch orientierte Erklärungsgrundlagen, Zielsetzungen und Programme verbunden wären.
Im Einleitungsartikel analysiert Katja Koch, Universität Rostock, mit hoher wissenschaftlicher Präzision die Zusammenhänge und gekoppelten Interessen von evidenzbasierter Forschung, staatlicher Bildungspolitik
und abhängig werdender Praxis, die nun Programme umzusetzen habe, deren Wirkungen durch empirische Forschung vorhersagbar geworden seien. Diese Annahme aber stelle mehr Fragen, als sie beantworten könne, z. B. bezüglich der Messbarkeit pädagogischer Wirkungen und der pädagogischen Praktizierbarkeit, aber vor allem auch der Kompetenz und Legitimität wissenschaftlicher Laboratorien, die die an sich unbegrenzbare Komplexität pädagogischer Wirkzusammenhänge und Zielsetzungen tatsächlich „in den Griff bekommen“, d. h. „systemrelevantes Steuerungswissen für die Praxis“ liefern zu können.
Bernd Ahrbeck, Humboldt-Universität Berlin, zeigt am Beispiel der besonderen pädagogischen Probleme mit ADHS-Kindern sehr konkret und differenziert auf, wie wenig dienlich ein durch evidenzbasierte
Forschung ermitteltes und offiziell angepriesenes Behandlungsprogramm wie das des „multimodalen Models“ in der pädagogischen Wirklichkeit ist. Die evidenzbasierte Forschung produziere zwar „unbestechliche“ und „beweisgestützte“ Ergebnisse (Zahlen), könne aber nicht „den Charme“ einfacher und praktizierbarer Ergebnisse bieten.
Oliver Hechler, Universität Würzburg, geht, historisch weit ausholend, auf die prinzipiellen Widersprüche zwischen evidenzbasierter Pädagogik und dem bisherigen Pädagogikverständnis ein und weist in vielfältiger Weise auf die an sich unumgängliche und konstitutive Unbestimmtheit der Ergebnisse pädagogischen Handelns und die fragwürdige Wirkung „wissenschaftlich“ standardisierter Interventionsprogramme hin.
Der Würzburger Stephan Ellinger thematisiert im Besonderen die Wirkzusammenhänge zwischen evidenzbasierter Forschung und staatlichen Ökonomisierungsinteressen. Dabei vertritt er die These, dass die mit dem gegenwärtigen inklusiven Umbau des Schulsystems verbundenen pädagogischen Probleme und Unsicherheiten der universitären Sonderpädagogik ihren Grund nicht zuletzt darin hätten, dass diese sich allzu sehr auf den Einsatz bloßer Interventionsprogramme stützten. Damit werde die komplexe pädagogische Situation in ihren vielfältigen Wirkdetails nicht erfasst, mit der Folge, dass eine zureichende Qualifizierung der angehenden Lehrer gefährdet werde.
Den Abschluss des Buchs bilden „Miniaturen“, die Gerhard Schad, Universität Würzburg, zusammengestellt hat. Er hatte sich bereits in der Zeitschrift für Heilpädagogik kritisch mit dem Thema befasst.
Seine Denkanstöße sollen den Pragmatismus und die Nutzenorientierung evidenzbasierten Denkens und Argumentierens deutlich machen: Die leichtfertige Reduktion von Komplexität, die sensiblen Märkte und der Vorrang ökonomischer Werte, die Überbewertung von Zahlen, einseitige begriffliche Festschreibungen, die Abwertung des Unwägbaren und Unbestimmten und ein pragmatisch reduzierter Begriff von Erziehung. Eine dominante Außensteuerung müsste die Autonomie der lernenden und sich auch sich selbst bildenden Persönlichkeit gefährden.
Die vorgelegte Schrift stellt zwar zu Recht fest, wie wichtig empirisch-pädagogische Forschung an sich ist, um möglichst dienliche Befunde zur Wirksamkeit pädagogischer Prozesse und Institutionen und auch der Bildungspolitik zur Verfügung zu haben. Sie zeigt aber auch mit gleicher Dringlichkeit auf, welche Gefahren sowohl für die (sonder-) pädagogische Praxis als auch für die Bildungspolitik drohen, wenn diese Forschungsmethode in ihrer Geltung verabsolutiert wird. Wissenschaft könne immer nur Hypothesen liefern, aber kein endgültig sicheres Steuerungs- und Wirksamkeitswissen. Die Sonderpädagogik sollte deshalb die Ergebnisse einer sogenannten evidenzbasierten Forschung nicht ungeprüft übernehmen.
In diesem Sinne stellen die hier vorgetragenen sonderpädagogischen Einwände gegenüber einer evidenzbasierten Pädagogik eine willkommene Belebung der gegenwärtigen eher anpassungsorientierten wissenschaftlichen Sonderpädagogik dar.

Otto Speck

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