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Handbuch Inklusion und Sonderpädagogik
Ingeborg Hedderich, Gottfried Biewer, Judith Hollenweger, Reinhard Markowetz (Hrsg.)

Das „Handbuch Inklusion und Sonderpädagogik“, herausgegeben von Ingeborg Hedderich (Zürich), Gottfried Biewer (Wien), Judith Hollenweger (Zürich) und Reinhard Markowetz (München), enthält 117 Stichwörter von 137 Autorinnen und Autoren gegliedert in vier Kapitel: „Sonderpädagogik als Wissenschaft im Wandel“, „Inklusion in Erziehungs- und Bildungsprozessen“, „Inklusion in der Gesellschaft“, „Neuere Zugänge zu Inklusion, Diversität und Behinderung“. Die Einleitungstexte zu diesen Kapiteln umfassen etwa zehn Seiten, die Stichwörter etwa fünf Seiten im Quartformat, gegliedert in Begriffsklärung, Forschungsstand, Diskussion und Perspektiven. Die Stichwörter bringen aktuelle, komprimierte Darstellungen zu einem bestimmten Thema, von „Anerkennung“ über „Lebensqualität“, „Autismus“ und „Community Care“ bis zu „Biografische Zugänge“, einige mit nationalem Bezug (z.B. zur „Frühförderung“ in der Schweiz, Kronenberg, 472ff), andere eher referierend, wieder andere mit klarer Position, hier interessanterweise besonders Stichwörter zur „Selbsthilfe“ (Wehrli, 528ff; Schönwiese, 44ff; Rohrmann, 437ff). Das „Handbuch Inklusion und Sonderpädagogik“ verbindet wie selbstverständlich mit einem „und“ zwei Begriffe, die auch durch ein Kontra darzustellen möglich wären. Die Verknüpfung der Gegenstandsbereiche wird durch die Kombination von Innovation in Wissenschaft und Gesellschaft (Inklusion) und etabliertem Wissensbestand (Sonderpädagogik) begründet. Doch ist die Sonderpädagogik, laut Überschrift des ersten Kapitels, selbst im Wandel begriffen. So heißt der erste Satz des ersten Stichworts: „Ambivalenz und Widersprüchlichkeit sind Kennzeichen moderner Pädagogik und damit auch der Sonderpädagogik.“ (Ellger-Rüttgart, 17) Die Ambivalenz äußert sich ebenso im Behinderungsbegriff: Einerseits bietet er die administrative Grundlage für Ressourcen, andererseits ist er potenziell Ausgangspunkt für Stigmatisierungen. (vgl. Sasse/Moser, 144; Opp, 146; Sauter, 172; Knauf, 301) Zudem: „Die Schwere der Behinderung ist nach wie vor ein entscheidender Faktor für oder gegen inklusive Beschulung“ (Boenisch, 224). Insofern der Inklusionsbegriff, wenn auch „in unterschiedlichen Bedeutungszusammenhängen“ (Jogschies, 315), auf Sonderpädagogik und das Phänomen Behinderung bezogen wird, scheint der Handbuch-Titel zutreffend. Wird jedoch das „dilemma of difference“ (Biewer/ Schütz, 125f) betont, lässt sich eine Kontraposition sonderpädagogischer zu inklusiver Ansätze feststellen, zumal unter Sonderpädagogik oft Sonderschulpädagogik (vgl. von Stechow, 32) verstanden wird und die Idee der Inklusion die Notwendigkeit der Sonderschule in Frage stellt. Aber anstandslos taucht im Kontext der inklusiven Schule der „sonderpädagogische Förderbedarf“ auf (vgl. Hansen, 195; Markowetz/ Reich, 343; Abschnitt „Entwicklungsbereiche und Förderschwerpunkte“, 208 - 261). Zum Übergang „von der Sonderpädagogik zur Inklusion“ (Kiuppis, 622) ist oft von einem „Paradigmawechsel“ die Rede, das würde bedeuten, dass eine „Revolution“ stattgefunden hat, was nicht der Fall ist, sondern es zeigen sich eher „Kontinuitäten“. (Hillenbrand, 54). In Bezug auf die „neueren Zugänge“ findet sich die Feststellung: „Aufgrund der vehementen Kritik der Disability Studies an der aussondernden traditionellen Pädagogik gab es (international) wenig gegenseitige Wahrnehmung von Disability Studies und (Sonder-)Pädagogik“ (Hirschberg/ Köbsell, 559). Zu „Behinderung“ außerhalb sonderpädagogischer Kreise zu forschen, was das Anliegen der Disability Studies ist, erscheint im deutschsprachigen Raum schwierig. Während in der Behindertenpädagogik anfänglich lediglich von Inklusion in Abgrenzung zur Integration, die die Segregation voraussetze (vgl. Heimlich, 118ff), die Rede war, berief sich die soziologische Systemtheorie darauf, dass die „Differenzen Inklusion/ Exklusion […] nicht auf einen gegebenen Raum verweisen, stattdessen auf Beobachter, die mit dieser Differenz die Welt […] einteilen“ (Fuchs, 398). Es fällt auf, dass in den letzten Jahren einige äquivalente Handbücher erschienen sind: Das zweibändige „Kompendium der Heilpädagogik“ (Hrsg. Greving, 2007), die 7. neu ausgestattete Auflage des „Handbuch Integrationspädagogik“ (Hrsg. Eberwein/Knauer, 2009), das zehnbändige „Enzyklopädische Handbuch der Behindertenpädagogik, Behinderung/Bildung/Partizipation“ in der Herausgeberschaft von Wolfgang Jantzen (2009 - 2014) und demnächst wird neu in 3. Auflage das „Handlexikon der Behindertenpädagogik“ publiziert. Wie ist diese Handbuch-Konjunktur zu deuten? Sind es eine Art Abschlussberichte oder eher die Ankündigung von Tendenzen? Dabei gibt es übereinstimmende Stichwörter, aber auch solche, die man nur in dem einen und nicht in dem anderen Handbuch vorfindet und auch unterschiedliche Autoren, Ansichten und Prioritäten. Liest man – mit einer Portion „Resilienz“ (Fingerle, 425) – die 700 Seiten des „Handbuch Inklusion und Sonderpädagogik“, von vorne bis hinten durch, ist man zum Gegenstandsbereich durch präzise „Situationsanalysen“ (Hollenweger, 674) umfassend informiert.

Christian Mürner

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