Der in Buchform vorliegende Forschungsbericht des Projekts „Gelingensbedingungen des Gemeinsamen Unterrichts in Schwerpunktschulen in Rheinland-Pfalz – GeSchwind“, das von 2011 - 2014 von den Autorinnen und Autoren in Rheinland-Pfalz durchgeführt wurde, evaluiert die integrative Arbeit an den dortigen sog. „Schwerpunktschulen“ und schließt damit die Forschungslücke zur Umsetzung integrativer bzw. inklusiver Beschulung in diesem Bundesland. Durch die forschungsmethodische Fokussierung auf die Perspektive der professionellen Akteure werden interessante Forschungsergebnisse generiert, die über Rheinland-Pfalz hinaus für die nationale und internationale Fachdiskussion bedeutsam und weiterführend sind. Es handelt sich um ein wissenschaftlich hochwertiges, klar gegliedertes, sehr gut und verständlich geschriebenes Werk zu diesem hoch aktuellen und (sonder-) pädagogisch bedeutsamen Thema.
In den ersten beiden Kapiteln erfolgt eine umfangreiche Kontextualisierung in Bezug auf die historische Entwicklung, die rechtlichen und organisatorischen Bedingungen der gemeinsamen Beschulung von Schülerinnen und Schülern mit und ohne einen sonderpädagogischen Förderbedarf in Rheinland- Pfalz. Die organisatorischen Modelle werden gut nachvollziehbar dargestellt und in die bundesdeutsche Gesamtentwicklung eingeordnet. Der „erweiterte pädagogische Auftrag“ der Schwerpunktschulen, der eine Betonung der individuellen Förderung aller Kinder, einen Ganztagsausbau und den gemeinsamen Unterricht beinhaltet, wird klar herausgearbeitet. Im Vergleich zu anderen Bundesländern zeigen sich relativ niedrige Inklusionsquoten, obwohl das Netz an Schwerpunktschulen flächendeckend ausgebaut ist. Die Konzentration auf die Förderschwerpunkte Lernen und ganzheitliche Entwicklung (und nicht wie in anderen Bundesländern emotionale und soziale Entwicklung) wird gut nachvollziehbar interpretiert und u. a. auf präventive Maßnahmen zurückgeführt. Die statistischen Analysen und Interpretationen in Bezug auf Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund und sonderpädagogischen Förderbedarf schließen an die aktuelle Fachdiskussion an und werden für Rheinland-Pfalz spezifiziert. Auf der Grundlage dieser Hintergrundinformationen wird in den weiteren Kapiteln das Forschungsprojekt GeSchwind vorgestellt.
Im 3. Kapitel „Ausgangslage, Forschungsstand, Forschungsansatz und -design“ erfolgt eine knappe, zusammenfassende Einordnung in die allgemeine bildungspolitische Entwicklung und den Forschungsstand zum gemeinsamen Unterricht in Rheinland-Pfalz, bevor die Gesamtanlage der Studie dargestellt wird. Diese ist in ihrem systematischen Aufbau zunehmend spezifischer Fragestellungen vollständig überzeugend, die je gewählten Erhebungs- und Auswertungsmethoden sind inhaltsangemessen und entsprechen dem „State of the Art“.
Im 4. Kapitel werden die Ergebnisse des ersten, qualitativen Forschungsschrittes „Experteninterviews mit der Schulaufsicht und der Beratung für Inklusion des Pädagogischen Landesinstituts“ vorgestellt. Die Ergebnisse der inhaltsanalytisch ausgewerteten, offenen Experteninterviews werden entlang des entwickelten Kategoriensystems systematisch dargestellt und durch Schlüsselzitate belegt. Interessant sind dabei insbesondere die differenzierten Aussagen zu den Beratungsbedarfen und -strategien der Befragten, die darauf ausgerichtet sind, eine inklusiv orientierte Schulentwicklung zu stützen und rein additive sonderpädagogische Unterstützungsformen zu vermeiden. Die Felder der Unterrichts- und Teamentwicklung werden dabei als zentrale Desiderate herausgearbeitet. Weiterhin spannend ist die Betonung der Rolle der Schulleitung im inklusiven Schulentwicklungsprozess, für die in der deutschen Forschungslandschaft noch relativ wenige Belege vorliegen. In Bezug auf diesen Aspekt werden, ebenso wie für die Einschätzung der Professionalisierungsbedarfe der schulischen Akteure, an verschiedenen Stellen interpretierend Referenzstudien herangezogen, wodurch der interessante Text zusätzlich gewinnt. Für die leitende Fragestellung der Studie insbesondere relevant sind die Unter kapitel zur Einschätzung der Expertinnen und Experten in Bezug auf die „Inklusivität der Schwerpunkt schulen“, die Visionen und Wünsche im Hinblick auf die Schulentwicklungen und die Überwindung von diesbezüglichen Widerständen. In der zusammenfassenden Diskussion der Ergebnisse werden diese Aspekte unter Bezugnahme auf den Fachdiskurs vor allem mit Fokus auf die Bedeutung von externer Beratung für die Systementwicklung sowie auf Chancen und Risiken „gestufter Fördersysteme“ gehalt voll eingeordnet, abstrahiert und interpretiert. Insgesamt spiegeln sich in den Experteninterviews zentrale Themen stränge der schulischen Inklusionsdiskussion, wie sie über Rheinland-Pfalz hinaus auch bundes weit und international bedeutsam sind.
Im 5. Kapitel „Online-Befragung der Schwerpunktschulen des Landes Rheinland-Pfalz“ werden die Ergeb nisse des zweiten quantitativen Forschungsschritts präsentiert. Die verschiedenen Akteursgruppen in den Schwerpunktschulen wurden mit einem Online-Instrument (Unipark) befragt. Dass dabei ein Ausschöpfungsgrad von 70,5% aller verfügbaren Schwerpunktschulen erreicht werden konnte, stellt im Vergleich zu anderen bundeslandspezifi schen Erhebungen einen erheblichen Erfolg für das Projekt dar und spricht für die Repräsentativität der Ergebnisse. Es wurden offene und geschlossene Fragen gestellt. Die Auswertung der geschlossenen Fragen erfolgt durch rein deskriptive Verfahren (Kreuz tabellen und Splittingberechnungen), die aber für den gewählten Forschungsfokus im mixed-methods-design der Gesamtanlage der anspruchsvollen Studie als hinreichend einzuschätzen sind. Die offenen Items wurden ergänzend inhaltsanalytisch ausgewertet. Bedeutsam sind dabei u.a. die Ergebnisse in Bezug auf die Einschätzung der Inklusivität der Schulen, die zeigen, dass insbesondere kleinere Systeme als inklusiver eingeschätzt werden, was vorrangig für Grundschulen zutrifft. Methodisch interessant ist die daran anschließende Auswertung mit einem Splitting zwischen solchen Schulen, die von den Befragten als besonders inklusiv versus als weniger inklusiv eingeschätzt wurden. In Ergänzung zu entsprechenden internationalen Forschungsergebnissen sind auch die akteursbezogenen Erhebungen zu den Vorstellungen von professionellen Kompetenzen und Zuständigkeitsbereichen, zu entwicklungsunterstützenden Maßnahmen, verwendeten Schulentwicklungsinstrumenten und deren Ertrag sowie zu Kooperationsniveaus und Unterrichtsentwicklung gemacht. Als forschungspraktische Begrenzung wird (im anschließenden 6. Kapitel) benannt, dass der Online-Fragebogen vor allem durch Schulleitungen bearbeitet wurde, wodurch die anderen Akteursperspektiven weniger ausgeprägt erfasst werden konnten. Diesem Desiderat wird mit den Gruppendiskussionen entsprochen, die in der dritten Forschungsphase durchgeführt wurden.
Das 6. Kapitel „Erhebungsphase 3: Gruppendiskussionen“ bearbeitet die Ergebnisse von Gruppendiskussionen mit Lehrkräften der allgemeinen Schule und Förderschullehrkräften in 28 ausgewählten Schulen, die mit der dokumentarischen Methode ausgewertet wurden. Die Fallauswahl erfolgte nach den Kriterien Schulart, Schulbezirk und Ernennungsjahr, so dass die wesentlichen Fallgruppen repräsentiert sind. Das forschungsmethodische Vorgehen wird in diesem Kapitel hoch elaboriert dargestellt und schlüssig begründet, der Forschungsprozess nach den Arbeitsschritten der dokumentarischen Methode wird anhand des empirischen Materials exemplarisch vorgeführt. In der nach Schulstufen gegliederten Analyse und Interpretation der Ergebnisse werden überaus bedeutsame Befunde präsentiert, die den Fachdiskurs bereichern. Hervorzuheben ist hierbei auch die gut nachvollziehbare Typenbildung der Gruppendiskussions-Teilnehmer und Teilnehmerinnen. Der bisherigen Systematik folgend würde zum Abschluss dieses Kapitels eine Zusammenfassung der zentralen Befunde fehlen, es endet etwas unvermittelt mit der Ergebnisdarstellung der Sekundarstufenschulen. Allerdings erfolgt eine systematische Zusammenfassung und Weiterführung direkt anschließend im 7. Kapitel.
Im 7. Kapitel erfolgt eine zusammenführende Analyse der Ergebnisse aller Erhebungsphasen. Neben einer Zusammenfassung zentraler Befunde werden hier weitergehende Interpretationen vorgenommen, indem die wichtigsten Ergebnisse der Einzelstudien wechselseitig systematisch aufeinander bezogen werden. Dieses Kapitel ist so aufgebaut, dass es auch für sich stehen kann und die wesentlichen Ergebnisse des Gesamtprojekts darstellt. Im abschließenden Ausblick des 8. Kapitels werden mit Rekurs auf zentrale inklusionspädagogische Quellen weiterführende Überlegungen angestellt und weitere Desiderata der inklusiven Schul- und Unterrichtsentwicklung herausgearbeitet.
Insgesamt wird mit dem Buch ein sehr überzeugender Beitrag zum wissenschaftlichen Inklusionsdiskurs in Deutschland geleistet. Das GeSchwind-Projekt generiert Forschungsergebnisse, die bisherige Erkenntnisse erweitern und differenzieren. Die einzelnen Forschungsphasen des Projekts können dabei auch als je unabhängige Teilstudien gelesen werden, die je für sich bereits wertvolle Erkenntnisse liefern. Sie werden im Gesamtprojekt im Sinne des vorgestellten mixed-methods-design aufeinander bezogen und befruchten sich gegenseitig in der Analyse. Ein lesenswertes Buch sowohl für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler als auch für wissenschaftlich interessierte Praktikerinnen und Praktiker als auch für die Bildungspolitik und Schuladministration!
Birgit Lütje-Klose
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