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Mehrsprachigkeit - Diversität - Internationalität
Sarah Rühle, Annette Müller, Phillip Dylon Knobloch (2014) (Hrsg.)

Eine Besonderheit dieses Herausgeberwerks ist, dass es rundum aus einem Guss ist. Als Festschrift zur Verabschiedung der Erziehungswissenschaftlerin Allemann-Ghionda konzipiert, lässt sich der Band inhaltlich von ihrem Werk leiten, das Schwerpunkte v. a. auf Mehrsprachigkeit, Diversität und Internationalität legte. Die Einleitung bietet eine gezielte Hinführung zu den Schwerpunkten, die gleichzeitig die drei Kapitel des Buchs bilden. Diese Struktur ist insgesamt überzeugend und wirkt in der Zusammenstellung der Beiträge stimmig – man müsste treffender sagen vielstimmig, um den Begriff der polyphonen Identität nach Allemann-Ghionda aufzunehmen. Die Wissenschaftlerin erfasste damit Mehrfachzugehörigkeiten: „In Anbetracht globaler und soziokultureller Veränderungsprozesse fühlen sich immer mehr Menschen verschiedenen Ländern, Kulturen und Sprachen zugehörig“ (7). Gleichzeitig trifft Polyphonie m.E. auch die Vielstimmigkeit innerhalb des Werks und der Fachdiskussion. Zum Ausdruck kommt Mehrstimmigkeit auch im Cover, das einen Werkausschnitt von Paul Klee zeigt: Polyphone Strömungen. Die Perspektiven auf das Thema sind sehr vielfältig und zum Teil vordergründig wenig theorie- und praxisrelevant für Sonderpädagoginnen und Sonderpädagogen. Allerdings bieten auf den ersten Blick ungewöhnliche Perspektiven gerade auch wieder die Chance, über den sonderpädagogischen Tellerrand zu blicken – man muss die Zeit und Muße dazu allerdings aufbringen und sich auf dieses Werk einlassen, das zeigt bereits die Vorstellung des Konzepts und der dazugehörigen Beiträge in der Einleitung. Das Kapitel Mehrsprachigkeit, Interkulturalität und Bildung nimmt vor allem die Förderung der interkulturellen Kompetenz als „oberstes Anliegen interkultureller Bildung“ (8) in den Blick. Hier versammelt sich eine historische Perspektive (Wisbert) neben verschiedenen Blickrichtungen auf Bereiche wie Mehrsprachigkeit (Portera, Panagiotopoulou & Krompak), Möglichkeiten und Grenzen einer mehrperspektivischen allgemeinen Bildung für alle im Kontext von Chancengerechtigkeit (Rühle). Zur Diversität und Professionalität nehmen die Herausgeber im Sinne Allemann-Ghiondas eindeutig Stellung: „Inklusion von Diversität gelingt nicht, indem beispielsweise alle Schüler/innen als ‚normal‘ wahrgenommen und gleich behandelt werden“ (10). Wie eine solche Inklusion gelingen kann, sollen die unter diesem Stichwort versammelten Beiträge vorstellen: Roth, mit Reich zusammen Autor des Hamburger Verfahrens zur Sprachstandsanalyse für fünfjährige Kinder mit und ohne Migrationshintergrund (HAVAS 5), stellt im umfangreichsten Beitrag des Herausgeberwerks sehr umfassend Hintergründe, Konzeption und Problematik der Sprachstandsanalyse von Vorschulkindern dar. Einleitend gibt er eine Übersicht über die Entwicklung von einschlägigen Verfahren. Dabei weist er vor allem auf das Problem hin, dass bis heute die Familiensprachen der Kinder in Diagnose und Förderung kaum einbezogen werden – HAVAS bietet hier Fassungen für die zahlenmäßig umfangreicheren Sprachgruppen wie Türkisch, Russisch, Italienisch, Spanisch, Portugiesisch und Polnisch. Umfangreich empirisch überprüft sind allerdings nur die Fassungen für Türkisch und Russisch. Das Konzept knüpft an Clahsens Profilanalyse an, die den Fokus auf ein zugleich umfassendes und differenziertes Bild des produktiven Sprachgebrauchs des Kindes erzeugen will. Es soll hier also weniger um rezeptives Sprachwissen, um Lösen von Aufgaben oder das Geben von Antworten gehen, vielmehr versucht man, das Kind zum freien Sprechen zu bringen. Umgesetzt wird dieses Vorhaben mit einer kleinen Bildergeschichte von Katze und Vogel, bei der der kleine Vogel die Katze, die ihn fressen will, austrickst. Diese kindgerechte Geschichte fordert – so zeigen die anschaulichen Beispiele – schon Kinder ab knapp drei Jahren zum freien Sprechen auf. Das Verständnis von Sprache und Sprachentwicklung, das dem Verfahren HAVAS 5 zugrunde liegt, wird ausführlich und verständlich dargelegt. Es werden einige fachsprachliche Begriffe verwendet – dies ist aber nicht zu vermeiden und unterstreicht lediglich, wie wichtig ein umfassendes Verständnis der kindlichen Sprachentwicklung ist, um differenziert fördern zu können, anstatt mechanisch „Programme anzuwenden“. Dies betrifft Erzieherinnen im Vorschulbereich gleichermaßen wie Lehrkräfte, die mit Kindern und Jugendlichen mit Deutsch als Zweitsprache arbeiten. An einer späteren Stelle berichtet Roth die Rückmeldungen der beteiligten Erzieherinnen, die einerseits anmerkten, dass das Befassen mit dem Instrument hohe Anforderungen an sie stellt, dass sie aber auch zunehmend einen differenzierteren Blick auf die kindliche Sprachentwicklung erhalten, der ihnen in der täglichen Arbeit gerade mit Kindern mit und ohne Migrationshintergrund enorm weiterhilft. Das Konzept HAVAS 5 kann nicht nur positiv für sich verbuchen, dass es die Herkunftssprachen der Kinder einbezieht, sondern zeichnet sich darüber hinaus durch ein Ausgehen von der Kindersprache aus; das bedeutet, dass nicht die Abweichungen von der Erwachsenensprache gesehen werden, sondern die Kompetenzen auf einer jeweiligen Entwicklungsstufemit den im Deutschen so gefürchteten Verben (die mal mit, mal ohne Modalverb verwendet werden, je nach Satzkonstruktion umgestellt und auseinanderdividiert werden) zeigt Roth sehr anschaulich und beispielhaft in einer Tabelle die 16 (!) Phasen, die ein zweitsprachiges Kind durchlaufen muss, bis es das Verb mit allen Finessen beherrscht. Mit zahlreichen Beispielen von Kinderäußerungen werden diese Phasen illustriert. Abschließend geht Roth auf die wissenschaftliche Überprüfung des Verfahrens und – dies ist besonders hervorzuheben – auf die Kritik an HAVAS 5 ein, die seit der Implementierung geübt wurde. Einwände, die z. B. von Bosselmann oder Lütje-Klose vorgebracht wurden, nimmt er auf und geht sehr ausgewogen darauf ein. Es wird zum Teil auch erläutert, inwiefern geübte Kritik in Überarbeitungen eingeflossen ist. Alles in allem ist dieser Beitrag besonders lesenswert, da er einerseits einen vertieften Einblick nicht nur in das Verfahren, sondern auch in die kindliche Sprachentwicklung des Deutschen als Zweitsprache generell gibt, anderseits dabei auch noch die wissenschaftliche Diskussion dazu aufgreift und einordnet. Somit ist er lesenswert für alle, die mit Kindern arbeiten, die Deutsch als Zweitsprache erwerben, darüber hinaus für Studierende und in der Wissenschaft Tätige. In seinem Beitrag „Der Lehrer erzieht nicht nur, er selbst wird erzogen“ beschreibt Auernheimer einleitend eine Momentaufnahme der gegenwärtigen erzieherischen und unterrichtlichen Praxis, die allen Erzieherinnen und Lehrkräften bekannt ist. Nicht ausschließlich, aber auch durch Migration bedingt, gilt: Was einst selbstverständlich war, ist nicht mehr selbstverständlich. Das Ansehen der Lehrkraft verändert sich, Rituale und Traditionen ebenso: „Die Schule ist entritualisiert. Wenn man Rituale eingeführt hat, dann bewusst, oft neu erfundene“ (71). Als Antwort auf diese und andere Veränderungen formuliert Auernheimer eine Reihe von Forderungen, die er formelhaft mit „Der ‚gute Lehrer‘ …“ einleitet. Diese bewusst stereotypen Vorschläge werden gleichzeitig theoriegeleitet und praxisbewusst ausgeführt, um am Ende des Beitrags deutlich die Grenzen für derartige Forderungen aufzuzeigen; dabei hat er gerade die „leistungsschwachen“ Schüler im Blick. Er betont vor allem die schulstrukturellen Grenzen unseres Landes und fordert bildungspolitische Veränderungen in Richtung eines inklusiven Schulsystems. Mit Sinn für Humor schreibt er am Ende des Beitrags: „Meine Überlegungen mag man als Altersresignation abtun. Aber erstens halte ich es nach wie vor für sinnvoll und geboten, pädagogische Handlungsmaximen zu formulieren und solche in der pädagogischen Ausbildung zu diskutieren. Nur müssen sie mit bildungspolitischen Forderungen verknüpft werden, weil sie ohne einen Umbau des Systems bloße Deklarationen oder Zumutungen an die einzelne Lehrperson bleiben“. Dieser Schlusssatz Auernheimers bildet einen passenden Abschluss für die vorliegenden Buchbesprechungen zum Themenkreis Migrationshintergrund in einem sonderpädagogischen Verbandsorgan wie der Zeitschrift für Heilpädagogik!

Christine Einhellinger

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