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Handbuch Migrationsarbeit
Britta Marschke, Heinz Ulrich Brinkmann (2014) (Hrs.)

Wenn man das in zweiter Auflage erschienene, überarbeitete Handbuch das erste Mal prüfend in die Hand nimmt, sich Inhalts-, Literatur- und Stichwortverzeichnis sowie das Personenregister und das Verzeichnis der beteiligten Autoren durchsieht und dabei durch die Kapitel blättert, fällt sofort ins Auge: Hier wurde versucht, ein Maximum an Wissen und Erfahrung innerhalb einer Seitenzahl unterzubringen, die gerade noch als handlich bezeichnet werden kann. Zahlreiche klein gedruckte Fußnoten, die im Einzelfall bis zu einer halben Seite einnehmen können (87) und ein recht dünnes Papier – zu Beginn etwas gewöhnungsbedürftig, weil die Rückseiten durchschimmern – sparen Platz. Dabei enthalten die Fußnoten oft Inhalte, die durchaus wichtig sind, um eine Argumentation voll erfassen zu können, z.B. auf S. 67 der interessante Hinweis von Britta Marschke, dass Sprache durchaus keine hinreichende Bedingung für eine gelingende Integration darstellt, wie sie (in der Fußnote) am Beispiel Frankreich illustriert. Dort haben die Migranten im Allgemeinen kein Problem mit der französischen Sprache. Dennoch treten dort Integrationsschwierigkeiten auf. Das Verzeichnis der Autoren hätte ausführlicher sein können, da es für Leserinnen und Leser durchaus interessant ist, in welchem Fachbereich ein Wissenschaftler einen Lehrstuhl innehat – gerade in einem Bereich, in dem so viele verschiedene Professionen zusammenarbeiten wie in dem der Migrationsarbeit. Das Konzept des Handbuches ist bei einer großen Fülle an verarbeitetem, theoretischen Wissen im Anspruch dennoch praxisorientiert angelegt. Die Einleitung klärt zunächst grundlegende Begriffe wie Migrationshintergrund und legt bei der sehr heterogenen Gruppe der Migranten einen Schwerpunkt auf die vier Herkunftsregionen Türkei, arabische Länder, heute zur EU gehörende Staaten wie Italien und Staaten des ehemaligen Jugoslawien. Ausgeklammert werden in diesem Handbuch Spätaussiedler aus Osteuropa. Auch die Situation jüdischer Kontingentflüchtlinge sowie der Asylbewerber wird nicht berücksichtigt, da sich beide Gruppen aufgrund ihres speziellen Rechtsstatus von der Gruppe der Arbeitsmigranten und ihrer Nachkommen deutlich unterscheiden. Die Zielsetzung des Theorieteils besteht darin, nach der Sichtung einer großen Menge von Daten statistische Aussagen zu Sozialstruktur und der politischen sowie sozialen Einstellung sowie zu Verhaltensweisen von Migranten in Deutschland machen zu können. Konkret referiert Brinkmann zunächst soziodemografische Merkmale der Migrationsbevölkerung (Bevölkerungsanteil, Geografische Verteilung, Merkmale der Sozialstruktur wie Herkunft und Problemlagen, Bildung und religiöse Bindungen), anschließend soziale und politische Teilhabe (Mediennutzung, Freizeitverhalten, politische Aktivitäten und Werthaltungen). Darüber hinaus widmet sich Marschke dem Thema Gesellschaftliche Teilhabe und Chancengleichheit als Indikatoren für Integration. Besonders hinzuweisen ist auf die aussagekräftige Übersicht auf S. 77, die den Dschungel der Fülle an Daten und Fakten dieser ersten drei Kapitel der Herausgeber etwas lichten kann. In ihrem zweiten Theoriebeitrag diskutiert Marschke das Spannungsfeld Interkulturelle Arbeit zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Im fünften und letzten Kapitel des ersten Theorieteils widmet sich Weiss Migrantenorganisationen als Motoren der Integrationsarbeit. Der Praxisteil wird in acht Kapitel unterteilt, die sowohl von Wissenschaftlern als auch von Praktikerinnen verfasst wurden und an deren Ende jeweils durch die Herausgeberin Marschke ‚Ideen zum Nachahmen’ stehen. Aus der Fülle der insgesamt 21 Praxisbeiträge plus ergänzender ‚Ideen zum Nachahmen’ sollen die exemplarisch vorgestellt werden, die aus sonderpädagogischer Perspektive besonders gewinnbringend erscheinen. Damit ist keinesfalls eine Abwertung der nicht ausdrücklich oder nur kurz genannten Beiträge beabsichtigt. Der Beitrag von Lengyel und Ilic zu frühkindlicher Bildung (S. 109-120) steht zwar im Praxiskapitel, der größte Teil ist jedoch theoretisch orientiert. Zunächst wird die Entwicklung der interkulturellen Pädagogik im Blick auf die Frühpädagogik referiert, anschließend der Begriff der Bildung in der frühen Kindheit geklärt. ‚Sprachliche Bildung im Spannungsfeld zwischen Pädagogik und Sprachenpolitik’ wird problematisiert, des Weiteren werden ‚Ansätze aus Theorie und Praxis’ beschrieben. Gerade der Bildungsbegriff ist sicherlich zentral wichtig, dennoch erwartet sich die Leserin von einem explizit als praxisorientiert angekündigten Beitrag evtl. konkretere Hinweise in Hinblick auf die Problematik, wie die Förderung von Kindern in ihrer Muttersprache aussehen soll, wenn in der pädagogischen Einrichtung keine oder zu wenige Muttersprachlerinnen zur Verfügung stehen. Der Beitrag von Akyol: Die Kindervilla Waldemar (S. 121-125) ist eigentlich ein Interview der Herausgeberin Marschke mit Akyol und ein sehr beeindruckendes und lesenswertes Praxisbeispiel einer Berliner Einrichtung, die Kinder verschiedener Nationalitäten mit und ohne Behinderungen, Beeinträchtigungen und Verhaltensauffälligkeiten betreut und dabei einen Schwerpunkt auf die interkulturelle Erziehung legt. Der Psychologe Uslucan legt in seiner wissenschaftlichen Arbeit zur ethischen Erziehung in muslimischen Familien (S. 257-269) den Schwerpunkt u.a. auf interkulturelle Familien- und Erziehungsforschung, Islam und Integration. Aus einer islamischen Binnenperspektive heraus beleuchtet er in seinem Beitrag die Religion einer bedeutenden Einwanderergruppe daraufhin, ob sie für den Prozess der Integration hemmend oder förderlich ist. Zunächst arbeitet er überzeugend heraus, dass gerade Migranten von den Ambivalenzen des modernen Lebens, dem sich alle Eltern ausgesetzt sehen, besonders betroffen sind. Sie erleben die deutsche Gesellschaft oft als ungeordnet und undurchsichtig; religiöse Orientierung kann ihnen dabei helfen, „einen Teil dieser Ambivalenzen zu ertragen“ (258). Gerade in der Diaspora – in unserem Fall also bei muslimischen Migranten im christlich orientierten Deutschland – „erlangt der Islam möglicherweise gegenüber migrationsbedingt erlittenen Kränkungen eine Überhöhung und wird stärker identitätsrelevant als in der Herkunftskultur“ (ebd.). Seine klaren Regeln geben eine Orientierung vor. Darüber hinaus kann der Islam – wie andere Religionen auch – den Menschen Sinnstiftung und Orientierung bieten. Gerade weil das Hineinwachsen in die religiöse Gemeinschaft in der Heimat mehr ‚nebenbei’ passiert, dies aber in einer Gesellschaft wie der unseren natürlich nicht der Fall ist, bemühen sich die Eltern mehr als im Herkunftsland, ihre Kinder gezielt islamisch zu erziehen. Entgegen weit verbreiteter Vorurteile aber unterscheiden sich die Werte der in Deutschland lebenden Muslime nicht so grundlegend wie oft vermutet von denen der christlich-abendländischen Kultur. In einer Untersuchung konnte Uslucan zeigen, dass sich gerade im Hinblick auf die Rangfolge der Werte Familie, Freiheit und Freundschaft vergleichbare Auffassungen zeigen. Deutlich sind dagegen die Unterschiede zwischen den in der Türkei Lebenden und den türkeistämmigen Migranten in Deutschland! Der Beitrag ist sehr kenntnisreich und gleichzeitig ausgewogen und spannend, gerade für in der pädagogischen Praxis Tätige. Aufgrund der eher sparsamen Literaturverweise und Fußnoten sowie der klaren und anschaulichen Sprache ist er sehr flüssig zu lesen. Er ist empfehlenswert für alle, die sich ein differenziertes Bild von religiöser Erziehung im Sinne des Islam machen wollen. Die Lektüre dieses Handbuchs ist aufgrund der mehrperspektivischen Herangehensweise und des praktischen Bezugs sowohl Wissenschaftlern als auch Studierenden und allen in der (sonder-) pädagogischen Praxis Tätigen sehr zu empfehlen.

Christine Einhellinger

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