In der UN-Behindertenrechtskonvention (Artikel 4, Abs. 3) heißt es, dass Menschen mit Behinderung in (politische) Entscheidungsprozesse einzubeziehen seien. Wie steht es um die Partizipation von behinderten Menschen in der (heil-)pädagogischen Wissenschaft und Forschung? Ist es zwingend für Forschungsvorhaben, die „Untersuchungsobjektesubjekte“ teilnehmen zu lassen, sie gar zu beteiligen? Oder werden dadurch die geforderte Objektivität und das Expertentum untergraben? Es kommt darauf an, wie man es versteht. „Experten des eigenen Lebens“ ist positiv besetzt. Diesen Ansatz findet man in der Publikation eines biografischen Forschungsprojekts, das unter der Leitung von Ingeborg Hedderich zwischen 2012 und 2014 an der Universität Zürich stattfand. Im Zentrum stehen die Biografien von Mirjam Brandenberger, Andreas Meyer, Lea Fadenlauf und Simon Diriwächter. Diese vier Personen erzählten ihre Lebensgeschichte einer Assistentin, die sie dann in „leichter Sprache“ aufschrieb. Claudia Spiess zeichnet die Lebensgeschichte von Mirjam Brandenberger nach deren Vorgabe auf (106-121), Lea Eichenberger schrieb diejenige von Andreas Meyer (122– 130) und von Simon Diriwächter (221-249) und Luise Arn hielt die Biografie von Lea Fadenlauf (138–220) fest – dieser eine Name ist im Übrigen zum Schutz der Person erfunden worden. An einer Stelle des Buches (47f) heißt es, dass diese vier Lebensläufe von Menschen mit Lernschwierigkeiten stammten, aber diese Bezeichnung kommt in den Lebensgeschichten nicht vor, genauso wenig wie das Wort „behindert“. Die Problematik der Bezeichnung wird aber in einem der sechs Texte in „schwerer Sprache“ von Katharina Lescow (49ff) aufgenommen. In der Sonderpädagogik spreche man anstelle von „Menschen mit Lernschwierigkeiten“ vor allem und gleichbedeutend von „Menschen mit geistigen Behinderungen“ oder von „Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen“. Die Bezeichnungen würden einerseits den „Zugang zu Unterstützungs- und Hilfeleistungen“ ermöglichen, andererseits aber auch den Weg zu einem selbstbestimmten Leben und Arbeiten erschweren (57). Lescow sagt, die Bezeichnungen seien an Defiziten orientiert, es käme aber auf die Betonung der Fähigkeiten an. Erich Otto Graf erläutert in seinem Text, was partizipative Forschung heißt. Diese Forschung unterscheide sich von der gängigen anderen Forschung dadurch, dass sie diejenigen Personen, um die es geht, einbezieht und ihnen zu einer eigenen „Stimme verhelfen will“ (32). Darüber habe diese Forschung nachzudenken. Graf gibt zu, dass es nicht von vornherein keinen Unterschied gebe, zwischen denjenigen, die an der Universität angestellt sind und denjenigen, die an einem Forschungsprojekt teilnehmen, auch wenn man von einer gleichberechtigten Forschung spricht. Das heißt auch, die partizipative Forschung ist davon abhängig, ob die Forscherinnen und Forscher bereit sind, sich „selbst in Frage stellen“ (41). Die Auseinandersetzung mit Biografien bietet dazu die geeignete Gelegenheit. Denn wenn man über sein eigenes Leben nachdenkt, dann fragt man sich auch, ob das oder jenes erzählt werden soll, ob es wichtig, das heißt ob es „biografiewürdig“ (19) ist. Dazu gibt Ingeborg Hedderich einige Hinweise. Es muss nicht immer alles außergewöhnlich sein, es können auch Kleinigkeiten entscheidend sein und dabei eine Person treffend beschreiben. Deswegen sind Biografien von „hoher Komplexität“, (22) sie fassen viel Verschiedenes zusammen und zeigen doch eine ganz bestimmte eigene Sicht einer Person. Die Texte von Monika Reisel, Florian Mühler, Raphael Zahnd und Barbara Egloff beschäftigen sich mit der Methode und dem Verfahren der Biografieforschung. Das Interesse an einer Lebensgeschichte beruhe auf einem offenen Umgang, also nicht an einem heimlichen Auskundschaften (65). Die Biografieforschung habe eine „Horizonterweiterung“ (84) zum Ziel. Es geht nicht darum, nur bestimmte Daten zu nennen, dann und dann geboren, aufgewachsen, gearbeitet und dort und dort Ferien gemacht zu haben. Die Biografie oder die assistierte Autobiografie will eine Lebensweise verstehen und dieser einen zusammenhängenden und auch berührenden Ausdruck geben (85). Wie ist so ein ungewöhnlicher Forschungsbericht zu beurteilen, der „leichte und schwere Sprache“ vereinigt? Frappant finde ich einen Satz in „leichter Sprache“ aus der Lebensgeschichte von Lea Fadenlauf: „Ich habe nicht immer alles verstanden. Ich habe einfach weiter zugehört. Irgendwann habe ich dann wieder was verstanden“ (151). Ich denke, das ist genau das, was man in „schwerer Sprache“ Kommunikation und Interaktion nennt. Das Buch ist ein Leseerlebnis und ein Erkenntnisgewinn. Durch die verschieden großen Schriften bekommt es eine auffallende Erscheinung. Inhaltlich bietet es aufschlussreiche und ehrliche Lebensgeschichten. In Verbindung mit den theoretischen Beiträgen ergibt sich zu den Themen „Biografie, Partizipation, Behinderung“ eine gründliche Auseinandersetzung.
Christian Mürner
zurück