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Widerstand, Anpassung, Pflichterfüllung?
Frank Andreas Brodehl

Das vorliegende Buch aus der Gehörlosenpädagogik hat als Gegenstand die Konfrontation der Taubstummenpädagogik mit dem Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses (G.z.V.e.N.) von 1933 und untersucht dies unter regionalgeschichtlichem Aspekt an der Taubstummenanstalt Schleswig. Dabei lautet die erkenntnisleitende, alltagsgeschichtlich orientierte Fragestellung, welche Einstellungen und Verhaltensweisen die Lehrer dieser Taubstummenanstalt, insbesondere die Schulleitung, gegenüber der eugenischen Politik einnahmen und praktizierten. Im Interesse der Verbreiterung des Quellenmaterials und im Bemühen um Vergleichbarkeit wurden die Quellenbestände zweier weiterer Taubstummenanstalten, nämlich der von Langenhorst(Westfalen) und Homberg/ Efze in begrenztem Umfang in die Untersuchung einbezogen. In dem einleitenden Kapitel entfaltet der Verfasser die historische Einordnung seines Themas, den historiographischen Hintergrund und den Forschungsstand sowie Aufbau der Arbeit und die spezifische Fragestellung, die darauf abzielt, durch die Einbeziehung lang vernachlässigter lokaler Quellen „eine detailliertere Vorstellung über den Berufsalltag in einer Schule für Gehörlose während der NSZeit zu gewinnen“ (S. 4). In Teil 1 diskutiert Frank Brodehl den historiografischen Forschungsstand verschiedener Disziplinen zur Zwangssterilisation, wobei die Geschichtsschreibung der Sonderpädagogik und namentlich der Gehörlosenpädagogik einen breiten Raum einnimmt. Dabei setzt sich Brodehl mit unterschiedlichen Positionen sonderpädagogischer Historiographie auseinander, wobei insbesondere die einflussreichen Publikationen Horst Biesolds, der bekanntlich aus der Opferperspektive eine pauschale Anklage und Verurteilung der Taubstummenlehrer im Nationalsozialismus erhoben hatte, einer kritischen historiografischen Würdigung unterzogen werden. Quellenbasis der vorliegenden Arbeit ist eine Fülle schriftlicher Zeugnisse wie Fragebögen, Fachzeitschriften, Tageszeitungen, Fachliteratur, Personal-, Organisations- und Verwaltungsakten aus unterschiedlichen Archiven, einschließlich der Akten von Erbgesundheitsgerichten, ferner Konferenzprotokolle, Korrespondenzen u.a. Dem Ziel einer nicht nur qualitativ, sondern auch stärker quantitativ orientierten Auswertung des historischen Materials dient die Anlage einer auf 1380 Schüler bezogenen Datei, die sämtliche personenbezogenen Daten der jeweiligen Schüler der Schleswiger Anstalt enthält; Vergleichbares, aber in reduziertem Umfang, erstellt der Verfasser für die Anstalten von Langenhorst und Homberg. In Teil 2 zeichnet der Verfasser in präziser und informativer Weise die Entwicklung der breiten rassenhygienischen Debatte vom Ende des 19. Jahrhunderts bis 1933 nach, um daran anschließend die Frage zu erörtern, wie in der Sonderpädagogik vor 1933, insbesondere der Hilfsschul- und Gehörlosenpädagogik, die eugenische Debatte geführt wurde. Auch wenn die Bemerkung zutrifft, dass „kritische Stimmen… die Ausnahme [blieben]“ (S. 81), so hätte es sich doch gerade mit Blick auf die die Gegenwart prägenden demokratischen Traditionen gelohnt, diese kritischen Stimmen der Sonderpädagogik stärker zu würdigen. Gemäß der Thematik der Arbeit nimmt der rassenhygienische Diskurs in der Gehörlosenpädagogik einen breiten Raum ein, der bis in das 19. Jahrhundert zurückverfolgt wird. Gut belegt und aufschlussreich ist die zurückhaltende bis ablehnende Haltung der Mehrheit der organisierten Taubstummenlehrer (BDT) in den 1920-er Jahren gegenüber radikalen rassenhygienischen Forderungen, wobei auch Paul Schumann eine prominente Rolle in der widerständigen Kritik einnahm. Wie sehr aber der wirtschaftliche Niedergang Deutschlands zu Beginn der 1930-er Jahre auch die Debatte in der Taubstummenpädagogik bis hin zur sprachlichen und inhaltlichen Anpassung beeinflusste, schildert Brodehl eindrucksvoll, differenziert und kenntnisreich. Gemäß der regionalgeschichtlichen Ausrichtung der Untersuchung, beschäftigt sich der Verfasser im letzten Abschnitt mit der Situation der Schleswiger Anstalt vor 1933, wo er insbesondere die Person und berufliche Rolle des 1933 abgesetzten Leiters Otto Taube einer abwägend-kritischen Analyse unterzieht, die wiederum eingebettet wird in die vielschichtige und ambivalente Umbruchsituation der Schleswiger Anstalt im Jahre 1933. Kernstück der Publikation ist der Teil 3. Zunächst referiert Frank Brodehl ausführlich Inhalte und Verfahren des Sterilisationsgesetzes, wobei spezifische Fragen wie Anzeigepflicht, Beschwerderecht, Schweigepflicht, Widerstandshandlungen, Propaganda und Indoktrination stets auf die Situation Gehörloser bezogen werden. In einem sich anschließenden Abschnitt behandelt der Verfasser die Resonanz der Taubstummenpädagogik auf das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses auf der nationalen Ebene, wobei wiederum differenziert herausgearbeitet wird, wie sehr die jeweiligen Zeitumstände Einfluss auf die divergenten Stellungnahmen und Veröffentlichungen einzelner Gehörlosenpädagogen nahmen und dass unter den Bedingungen gleichgeschalteter Verbände und Presse es unzulässig ist, auf Taubstummenschulen während der NS-Zeit zweifelsfrei bestand und kein „Mythos“ war, dass „Taubstummenlehrer“ ohne weitere Funktionen nur in Einzelfällen im Sinne der Eugenik und des G.z.V.e.N. tätig waren und von einer „Mitarbeit an der Umsetzung des Gesetzes“ ausgeschlossen blieben, dass die Ausdifferenzierung der sonderpädagogischen Disziplin kaum als „Beleg für die Implementierung der Rassenhygiene durch die Sonderpädagogik“ herangezogen werden kann und dass das Jahr 1933 sehr wohl eine Zäsur hinsichtlich „eugenischer Überlegungen und Forderungen“ in der Sonderpädagogik darstellt. In dem sich anschließenden Fazit reflektiert der Verfasser erneut seine Fragestellung und sein methodisches Vorgehen, um im Sinne von Zusammenfassung und Ausblick auf Selbstverständnis und Rolle der Taubstummenpädagogen zu rekurrieren, für die „wohl auch nicht weniger als beim Schnitt der Gesellschaft im Deutschland der 1920er und 1930er Jahre (sozial-) rassistisches und utilitaristisches Gedankengut handlungsleitend war“ (S. 404) und deren Versagen und Schuld – und hier bezieht er sich erneut auf Publikationen von G. Aly –, in einer antiliberalen Haltung, fehlenden Zivilcourage und Unselbstständigkeit des Denkens lagen, was sich weit in die Nachkriegszeit hinein fortsetzte. Frank Brodehls Publikation, die auf einer Dissertation beruht, ist ein wichtiger Beitrag zur sonderpädagogischen Geschichtschreibung. Gestützt auf umfangreiches Quellenmaterial vermag ihr Verfasser überzeugend herauszuarbeiten, dass konkretes Handeln im Nationalsozialismus unter den Bedingungen totalitärer Herrschaft kaum „geradlinig“ verlief, dass es große Bandbreiten des Verhaltens zwischen den Polen von Mittäterschaft und Widerstand gab und dass nur eine intensive Quellenarbeit unter regional- und alltagsgeschichtlicher Perspektive diese Verästelungen aufzuzeigen vermag. Durch einen kritischen und reflektierten Umgang mit dem, was uns an Überlieferungen aus der Vergangenheit zur Verfügung steht, verbietet sich ein pauschalierender, Gewissheit vortäuschender Schwarz-Weiß- Blick auf die Geschichte. Brodehls Verdienst ist es, mehr Fragen gestellt als Gewissheiten formuliert zu haben. Er gibt damit Anregungen für weitere historische Forschung, die dringend notwendig ist, da nach wie vor viele weiße Flecken in der sonderpädagogischen Historiographie existieren. Bedauerlich ist, dass die Arbeit für die Buchveröffentlichung nicht überarbeitet und in einer preiswerteren Version herausgebracht wurde. Sprachliche Glättungen, inhaltliche Straffungen, die Untergliederung des Literaturverzeichnisses in einen Quellen- und Darstellungsteil sowie ein Verzeichnis der jeweiligen Archivbestände der besuchten Archive hätten zweifellos der Lesbarkeit und weiteren wissenschaftlichen Nutzung gedient. Abgesehen von diesen Einschränkungen ist allen historisch interessierten Lesern die Publikation von Frank Brodehl sehr zu empfehlen, die – und das ist eher selten – etwas von der Freude an der Beschäftigung mit Geschichte vermittelt, aber auch von dem Ringen und Mühen um historische Wahrheit.

Sieglind Luise Ellger-Rüttgardt

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