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Förderschwerpunkt Lernen - wohin?
Bernhard Rauh

Der Förderschwerpunkt Lernen steht gegenwärtig stark in der Kritik. Die Effektivität einer eigenständigen Organisationsform mit diesem Arbeitsschwerpunkt wird in Frage gestellt, Lernschwierigkeiten werden als „normalste Sache der Welt“ (Wocken) bezeichnet, verschiedene Bundesländer weisen in der Schuleingangsphase einen sonderpädagogischen Förderbedarf im Förderschwerpunkt Lernen nicht mehr aus. In einer solchen Situation scheint es angebracht, die Frage nach der weiteren Entwicklung des Förderschwerpunkts Lernen zu stellen. Die Herausgeber des Sammelbands „Förderschwerpunkt Lernen – wohin?“ sehen angesichts der mit der UN-Behindertenrechtskonvention und der inklusiven Bildung verbundenen Veränderung der politisch-gesellschaftlichen Rahmenbedingungen eine Bestandsaufnahme und vor allem die Entwicklung von neuen Perspektiven im Förderschwerpunkt Lernen dringend geboten (S. 25). Was beinhalten die einzelnen Beiträge? Bernhard Rauh, Desirée Laubenstein und Hans-Ludwig Auer fragen danach, für welches Ziel und zu welchem Zweck man heute noch einen Förderschwerpunkt Lernen brauche. Sie betonen, dass der Förderschwerpunkt Lernen sich im Zeitalter der Inklusion in einer Krise befinde und dringend um Klärungen zum Gegenstandsbereich, Zweck und damit einer Bestimmung des eigenen Professionalitätsbereichs bemühen müsse. Eine solche Auseinandersetzung sollte perspektivische Überlegungen zu neu sich auftuenden Arbeitsbereichen, zu bislang nicht besetzten Themen und Arbeitsfeldern beinhalten, wie z. B. Dropout. Es seien Kategorien zu präferieren, die es erlauben, hinreichend individualisiert vorzugehen, sowohl in inklusiv organisierten Bildungsangeboten als auch in spezialisierten, schulorganisatorisch eigenständigen Angeboten. Besonders aufschlussreich ist der gewählte Zugang. Die Fragen nach der Krise werden nicht im Sinne eines vorliegenden Faktums, sondern vor dem Hintergrund eines veränderten „zeitgenössischen Bewusstseins“ (Miethke) gestellt – eine kleine, aber wesentliche Differenzierung. Für Orientierungsversuche wird die Notwendigkeit einer Professionalitätsvorstellung und eines Sets an viablen Kategorien als unabdingbar angesehen. Lars Anken betitelt seinen Beitrag ganz im Banne des Fukushima- Schocks mit „Inklusion – Kernfrage oder Kernschmelze des Förderschwerpunkts Lernen?“ In der Essenz ist gemeint, dass es kein Entweder-oder von Inklusion bzw. Exklusion gibt, sondern graduelle Abstufungen. Als Regulativ, als Kriterium für das Gelingen von Inklusion formuliert er zwei „Maße von Einbezogenheit“ (S. 40ff). Neben solchen informativen Passagen findet sich viel systemtheoretischkonstruktivistische Lyrik. Bernhard Rauh erörtert, ob und inwieweit der Begriff des Lernens die fachlich-wissenschaftliche Arbeitsperspektive des thematisierten Förderschwerpunkts hinreichend tragen kann. Schon von Bleidick wurde die Bezugnahme auf den Begriff des Lernens als „Verlegenheitslösung“ (vgl. S. 57) bezeichnet. Das Provisorium hält sich erstaunlicherweise dennoch schon eine ganze Weile. Rauh fragt weiter, ob und inwieweit der Begriff des Lernens zur Bestimmung des fachlichen Gegenstands eines sonderpädagogischen Unterstützungssystems in der inklusiven Schule geeignet sei. Als kritische Punkte bringt er ein, dass die Perspektive für Diagnose und Förderung sich im Interesse des Kindes im Förderschwerpunkt Lernen nicht allein auf das Kind konzentrieren dürfe. Analyseeinheit einer (sonder-) pädagogischen Diagnose müsse die gesamte Lehr-/Lernsituation sein. Auch werden vom Autor vorsichtig als „erste Überlegungen“ klassifizierte, anregende Ansätze zu einer begrifflichen Neuorientierung skizziert. Des Weiteren wird in der Herleitung der Argumentation in Bezug auf klassische Autoren und Auffassungen (Bach, Bleidick, Möckel) die Geschichte der Hilfsschule und ihrer leitenden Theorien/Begriffe knapp und informativ nachgezeichnet. Marc Thielen formuliert in seinem Beitrag „Form vor Inhalt?“ kritische Anmerkungen zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention im Förderschwerpunkt Lernen. Aus einer lebenslagensensiblen Perspektive betrachtet falle vor allem eine Dominanz moralischer Argumentationen auf. Damit bestehe die Gefahr, sowohl inhaltliche und emotionalsoziale Aspekte als auch lebenslagen- und milieusensible Perspektiven, wie sie gerade für den Förderschwerpunkt Lernen konstituierend seien, aus dem Auge zu verlieren. Clemens Hillenbrand, Marie-Christine Vierbuchen und Tobias Hagen zeigen exemplarisch am Thema Dropout auf, wie Themen, Auffassungen zu Themen und Zuständigkeiten für die Bearbeitung von Themen vom Förderschwerpunkt Lernen besetzt werden können. In einem inklusiven Bildungssystem wäre nach Ansicht der Autoren eine auf den Förderschwerpunkt Lernen bezogene Kompetenz insbesondere dann gefragt, wenn Jugendliche in Gefahr stehen, den Übergang ins Beschäftigungssystem nicht zu schaffen. Schulischer Dropout und Dropout-Prävention wäre ein zentrales Thema für den Förderschwerpunkt Lernen. Für die Operationalisierung diese Ansatzes stellen sie im zweiten Teil des Beitrags ein Projekt zur Prävention von Dropout, dessen Grundlagen sowie erste Ergebnisse vor. Desirée Laubenstein und Bernhard Rauh leisten eine qualitative Auswertung von Expertendiskussionen über Gegenwart und Zukunft ihres fachlichen Gegenstands. Insbesondere leitende Themen und Begriffe der Akteure im Förderschwerpunkt Lernen arbeiten die Autoren heraus. Es zeigt sich, dass die Expertinnen und Experten den Prozess des Aufbaus eines inklusiven Bildungssystems aktiv mitgestalten wollen, sei es auf wissenschaftlicher oder auf gesellschaftspolitischer Ebene. Andererseits bilden eigenständige Schulen wohl noch immer einen Ankerpunkt des fachlichen Selbstverständnisses und damit möglicherweise auch ein Hemmnis für eine Neuakzentuierung des Förderschwerpunkts Lernen im System inklusiver Bildung. Sehr angenehm liest sich der analytische Stil der sechs Beiträge. Die differenziert abwägenden Erörterungen bleiben sachlich. Gerade damit eröffnen die Beiträge Verständnismöglichkeiten für die Lage des Förderschwerpunkts in der aktuellen Transformationsphase. Und was noch viel wichtiger ist, sie geben Orientierung, zeigen Perspektiven auf und geben Impulse, den Förderschwerpunkt Lernen (oder wie das Arbeitsgebiet zukünftig auch heißen mag) als innovativ und sich weiter entwickelnd zu denken, ihn sich neu und anders zu denken und sich nicht nur auf das Althergebrachte zu besinnen oder einfach eine Abschaffung zu proklamieren. Mit dem Band liefern die Herausgeber einen äußerst informativen Beitrag für die gegenwärtige sonderpädagogische Diskussion, der sich im Spannungsfeld von Sonder- und Inklusionspädagogik, von Disziplin und Profession, von soziologischem und pädagogischem Inklusionsverständnis bewegt.

Christian Schwab

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