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Philosophie in der Heil- und Sonderpädagogik
Markus Dederich

Das Buch steht in der Reihe von insgesamt sieben Buchtiteln zu Nachbarwissenschaften der Heil- und Sonderpädagogik: Psychologie, Philosophie, Soziologie, Erziehungswissenschaft, Medizin, Recht, Technik. Eine solche Sammlung ist neu. Sie dürfte sicherlich ein längst fälliges Unterfangen sein, die interdisziplinäre Orientierung der Behindertenpädagogik herauszustellen. Nun erscheint es unmittelbar einsichtig, dass Psychologie, Soziologie und Medizin relevante Nachbarwissenschaften für behindertenpädagogische Fragestellungen sind. Mit Erziehungswissenschaft und Philosophie verhält es sich jedoch anders. Sie gehören gleichsam zum Inneren des Hauses, machen den Kern ihrer grundlegenden Ideen aus. Pflegen wir doch oft ein Zitat von Paul Moor heranzuziehen, dass Heilpädagogik Pädagogik sei „und nichts anderes“. Eine ebensolche Ableitung könnte auch für die Philosophie gelten. Philosophische Grundlegungen der Erziehung und Bildung behinderter Menschen haben seither die Geschichte des Fachs begleitet. Um eine vordergründig nominelle Interpretation heranzuziehen: Die philosophische Begründung einer christlichen Heilpädagogik bekannte sich zum „Heil des Heilzöglings“ (Linus Bopp, 1930). Eine sonderpädagogische Anthropologie betonte die „Sonderform“ des Behinderten, dessen Wert und Gleichheit zu achten sei (Karl Heinrichs, 1931). Die Rückschau auf solch traditionelle Bestände macht deutlich, wie weit wir uns von derartigen Sinngebungen entfernt haben. Die ausführliche Berücksichtigung philosophischer Lehrmeinungen, mit der Dederichs Buch imponiert, zeigt in ihrer Vielfalt zudem die geradezu fundamentalen Wandlungen unseres Fachs auf. Dabei mutet die stereotype Tautologie von „Heil- und Sonderpädagogik“ eher wie ein Schönheitsfehler an, wo doch nur synonym das Ganze der Behindertenpädagogik gemeint ist (auch in Band 1 der Reihe, „Psychologie in der Heil- und Sonderpädagogik“, bleibt das Nebeneinander der Begriffe unkommentiert). Die Konzeption des Buchs lässt sich mit einer großen Ellipse vergleichen, mit der essentielle Themen der Behindertenpädagogik umrissen sind. Ihre beiden Brennpunkte sind einmal durch das Verhältnis von Gleichheit, Verschiedenheit und radikaler Differenz und zum anderen durch die Figur der Grenze, der Begrenztheit von Verstehen und Kommunikation gegeben. Unter diesen Gesichtspunkten werden Grundfragen der Behindertenpädagogik in acht Kapiteln ausformuliert: „in welcher Hinsicht und in Bezug auf welche Problemstellungen die Philosophie mit Blick auf die Heil- und Sonderpädagogik und das Thema ‚Behinderung’ von Bedeutung ist“. Und: „Philosophie in der Heil- und Sonderpädagogik bedeutet, zentrale Begriffe und theoretische Grundorientierungen, etwa anthropologische Annahmen, erkenntnis-theoretische Denkfiguren, sozialphilosophische Modelle oder ethische Positionen, zu prüfen, zurückzuweisen oder weiterzuentwickeln“. Von dem Philosophen Wilhelm Windelband stammt das Wort, Philosophie sei das Zuende-Denken der Tatsachen. Also etwas, das hinter die bloßen Fakten zurückgeht, ihnen zugrunde liegt, sowohl ihre Begründungen als auch ihre Folgerungen umfasst. Insofern gibt es eine Philosophie der Behindertenpädagogik und eine Philosophie für die Behindertenpädagogik. Nun existiert aber nicht die Philosophie. Vielmehr kennen wir differente und sich vielfach ausschließende kulturelle, historische und weltanschauliche Ausprägungen des Nachdenkens über den Menschen und seine Welt; von der griechischen Antike über Kants Aufklärungsphilosophie und die marxistische Orthodoxie bis hin zu Karl Jaspers „philosophischem Glauben“. Ein geschlossenes System der reinen Lehre hat es für die Fundierung pädagogischen Tuns leichter als die Bezugnahme auf Positionen mit unterschiedlichen Aussagewerten. Dederich entgeht diesen Schwierigkeiten trotz eines weitreichenden Ausgriffs auf mannigfache philosophische Strömungen durch die erkenntnisleitende Ausgangssituation der Behindertenpädagogik. Sie ermöglicht einen kohärenten Eklektizismus, der die Vereinbarkeit der aus diversen Referenzrahmen stammenden Philosophielehren gestattet. Insofern ist sein Werk ein Stück angewandter Philosophie auf Erziehung, Unterricht und Therapie von behinderten Menschen. Würde man Dederich nach einer vorwiegenden philosophischen Ausrichtung einordnen wollen, so könnte man ihm Affinität zur neuzeitlichen Phänomenologie bescheinigen. In den einzelnen Kapiteln werden die philosophischen Gesichtspunkte der Behindertenpädagogik auf ihre Legitimation hin diskutiert: Erkenntnistheorie: Wie gewinnen wir wahre Erkenntnis über menschliches Behindertsein? Wissenschaftstheorie: Wie lässt sich angesichts der Vielfalt wissenschaftstheoretischer Erklärungsweisen und subjektiver Standortgebundenheit eine gesicherte Orientierung erzielen? Anthropologie: Können die Besinnung auf ein sozialintegratives Menschenbild und anthropologische Reflexion behinderten Menschen ein Mehr an Anerkennung, Schutz und Würde verleihen? Technik: Muss die Rolle der Technik in ihrer Ambivalenz – einerseits vielfaches prothetisches Hilfsmittel zur Lebenserleichterung und andererseits Zeichen eines Prozesses der Diskriminierung und Ausgrenzung von Menschen mit einer Normabweichung – nicht revidiert werden? Ethik: Werden die Forderungen der Ethik einen Schutzbereich für die Anerkennung behinderter Menschen bringen? Selbstbestimmung und Stellvertretung: Wie lassen sich Selbstbestimmung und Stellvertretung für Behinderte als sich widersprechende Aspekte vereinbaren? Anerkennung: Wie kann Anerkennung die soziale Benachteiligung von behinderten Menschen mildern und ihre Identität befördern? Politik und Gerechtigkeit: In welcher Weise ist politische Willensbildung in der Lage, zu Gleichheit und Gerechtigkeit sowie den Teilhabechancen für behinderte Menschen beizutragen? Was die Breite und Intensität des philosophischen Zugriffs auf grundsätzliche Perspektiven der Behindertenpädagogik anbetrifft, ist das Werk – das übrigens bei aller szientifischen Komplexität seines Gegenstands gut lesbar ist – beispiellos. Einige Teilstücke finden sich bereits in früheren Veröffentlichungen von Dederich. Sie liegen jetzt systematisch geordnet vor. Der Psychologe Max Wertheimer würde das Vorgehen Dederichs als divergierendes Denken bezeichnet haben, das – neben der ausführlichen Referierung der bisherigen philosophischen Beiträge zur Behindertenpädagogik – abseits der gewohnten, ausgetretenen Interpretationspfade zu neuartigen Ausblicken gelangt, beispielsweise etwa in der philosophischen Aufarbeitung der Technikfragen. Wesentliche Erkenntnisse und Haltungen werden neu bedacht. Das dürfte für die wissenschaftliche Theoriebildung, aber auch für den praktischen Umgang mit benachteiligten Menschen, von beträchtlicher Bedeutung sein.

 Ulrich Bleidick

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