Ein synthetischer, qualitativ-quantitativer Ansatz für die Handlungsfelder Deutsch, Mathematik und Verhalten. Schneider-Verlag Hohengehren, 2012. ISBN: 3834011436, 265 Seiten, 19,80 Euro. Kaum ein Themenbereich wurde und wird in der Pädagogik derart kontrovers diskutiert wie der der Diagnostik. An kaum eine andere pädagogische Vorgehensweise knüpfen und knüpften sich derart unterschiedliche Erwartungen. Verbreitet ist z.B. bei Lehrerinnen und Lehrern die Sorge, dass Diagnosen in Schule und Unterricht – insbesondere die Feststellung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs - zu Etikettierungen und diese wiederum zu sozialen Ausgrenzungen führen können: zu de facto reduzierten Bildungsbemühungen und zu Bildungsabschlüssen ohne Tauschwert, auch dann, wenn mit der Diagnose eigentlich eine präzisere Passung der pädagogischen Angebote und ggf. auch eine sozialpädagogisch-therapeutische Unterstützung eingeleitet werden sollte. Denn keinesfalls sind in der Pädagogik die faktischen immer deckungsgleich mit den intendierten Handlungsfolgen und man kann zu Recht fragen, welche Existenzberechtigung Institutionen wie Sonder- oder Förderschulen haben, wenn ihre Absolventen so gut wie keine Chance haben, eine Lehre anzutreten oder überhaupt eine ausreichend bezahlte Arbeit zu finden. Andererseits ist es eine nicht zu leugnende Tatsache, dass viele Schülerinnen und Schüler Probleme bei der Bewältigung der pädagogischen Angebote haben, dass anderen Lernenden das Leben und Lernen in der Schule emotionale und soziale Probleme bereitet, dass es Kinder und Jugendliche gibt, die durch hyperaktives bzw. gewaltbereites Verhalten anderen Probleme bereiten, und manche in einem Teufelskreis gefangen sind, derart, dass sie – und in nicht geringem Maße auch ihre Familien – von allen diesen Schwierigkeiten betroffen sind. Derartige Probleme verschwinden nicht dadurch, dass man sie ignoriert, und die Lebens- und Lernchancen der Schülerinnen und Schüler verbessern sich auch nicht dadurch, dass man sie in den Klassen „mitlaufen“ lässt, ohne ihre Probleme zu benennen, geschweige denn, sich ihnen zu stellen. Beginnt man aber damit, die pädagogischen Bedarfe der Lernenden wahrzunehmen und zu benennen und Präventions- und Unterstützungsangebote für Kinder und Jugendliche zu konzipieren und bereitzuhalten, begibt man sich unweigerlich auf das Terrain der Diagnostik: wobei Alltagsdiagnostik betreibt, wer sich auf seine Intuition und seine Beobachtungsgabe verlässt, und systematische Diagnostik, wer sich wissenschaftlich erarbeiteter Diagnosekonzepte und -instrumentarien bedient. In einer wissenschaftlich betriebenen Pädagogik kann und sollte die Intuition allerdings nicht der einzige Ratgeber sein. Besondere Aktualität gewinnt das Thema „Diagnostik“ durch die seit „PISA 2000“ wiederholt durchgeführten nationalen und internationalen Studien zur Effizienz der Bildungssysteme, sowie durch den Beitritt Deutschlands zur Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen. Erstere legen nahe, Effizienzsteigerungen durch eine gezieltere individuelle Passung pädagogischer Angebote an die – diagnostisch zu ermittelnden – Ausgangslagen der Lernenden zu erzielen. Letztere sieht vor, Lernende, die bisher in Sonderschulen und Fördereinrichtungen unterrichtet wurden, inklusiv zu beschulen. Das aber bedeutet, dass für diese Kinder und Jugendliche individuelle Förderbedarfe ermittelt werden müssen, und, darauf aufbauend, individuelle Förderpläne und Curricula auszuarbeiten und umzusetzen sind, die dann auch in vorher festgelegten Zeitabständen zu evaluieren und fortzuschreiben sind. Beides zusammen bedeutet, dass der Lehrplan für alle nicht länger der Förderplan für jeden Schüler und jede Schülerin ist, sondern ein Rahmenplan, der jeweils individueller Anpassung bedarf. Beide Entwicklungen zusammen haben zur Folge, dass zunehmend organisatorische Trennungen im Bildungswesen zugunsten gemeinsamen Lernens aufgegeben werden und in „Oberschulen“ oder „Stadtteilschulen“ Kinder und Jugendliche gemeinsam unterrichtet werden, die bisher auf drei oder vier verschiedene Schulformen verteilt waren. Dabei reicht das Spektrum von Lernenden mit Förderbedarf bis hin zu späteren Abiturienten, das aber erfordert, individuelle Lernpläne für alle zu formulieren und über die gesamte Zeit des gemeinsamen Lernens fortzuschreiben. Damit aber stellt sich endgültig nicht mehr die Frage, ob in pädagogischen Handlungsfeldern diagnostiziert werden darf, sondern wie diagnostiziert werden muss. In dem vorliegenden Buch wird das Für und Wider des Diagnostizierens in pädagogischen Handlungsfeldern ausführlich diskutiert. Die Autoren benennen, unter welchen Voraussetzungen Diagnostik zu einer Optimierung pädagogischer Angebote beitragen können, und wo Diagnostik an ihre Grenzen kommt. Der besondere Wert des Buchs liegt jedoch darin, dass die Autoren einen Werkzeugkoffer entwickelt haben, aus dem sich Lehrerinnen und Lehrer je nach ihren diagnostischen Aufgaben bedienen können. Dabei werden nicht nur qualitative und quantitative Instrumente vorgestellt, sondern – professionelles Diagnostizieren setzt immer auch Metawissen voraus - auch die Modelle, die den zu diagnostizierenden Sachverhalten zugrunde liegen. Besonders hervorzuheben ist auch, welch breiter Raum der Diagnose und der Intervention bei Verhaltensproblemen eingeräumt wird. Das Buch erhält dadurch, verglichen mit ähnlichen Publikationen, ein Alleinstellungsmerkmal. Zu den besonders nützlichen Werkzeugen gehören u.a. auch die Vorgaben zur Erstellung von Förderplänen und die Vorlagen zur Verschriftlichung von Diagnoseergebnissen, Förderzielen und Fördermethoden. Diagnosen und Diagnoseergebnisse werden vor allem dann zu einer Optimierung der pädagogischen Angebote führen, wenn sich im Zuge der zahlreichen organisatorischen Veränderungen im Bildungswesen auch eine pädagogische Grundhaltung entwickelt, kein Kind zurückzulassen und allen Kindern zu einer bestmöglichen Entfaltung ihrer Potentiale verhelfen zu wollen.
Rudolf Kretschmann
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