Globalisierung und Neoliberalisierung als bestimmende Prozesse unserer Epoche beinhalten nicht nur, dass – in „Umwertung aller Werte“ – generell nach ökonomischer Brauchbarkeit und ökonomischem Wert für die Märkte gefragt wird, sie haben auch vielfältig soziale und kulturelle Folgen, die in den Ländern der Peripherie und Semiperipherie weitaus deutlicher zu spüren sind als in den Zentren der kapitalistischen Globalisierung. Effizientere „Ausschöpfung des Humanvermögens“ und die Verwandlung des aktiven Sozialstaats in einen „aktivierenden Sozialstaat“ sind Schlagworte für die all gemeinen Tendenzen, die auch in Deutschland sehr deutlich zu spüren sind. Entsprechend fragen die Herausgeber im Vorwort. „Wie lässt sich von ‚Lebensplanung’, von ‚Teilhabe’ und ‚autonomer Selbstgestaltung’ jenes runden Fünftels von ‚Bürgerinnen und Bürgern’ als Zielvorgabe einer Pädagogik sprechen, welche die Gesellschaft und die Politik offensichtlich gar nicht benötigen, denen sie Respekt oftmals verweigern und denen gegenüber sie sich entsolidarisieren?“ (5) In insgesamt fünf Hauptteilen und 15 Beiträgen wird der Thematik des Bands nachgegangen. Das beginnt mit der „soziökonomischen und soziokulturellen Benachteiligung im Risikokapitalismus“ (Butterwegge, Chassé, Hiller), geht über „religiöse und historische Bezüge“ (Möckel, Pompey) und „ethische Positionierungen“ (Dederich, Gröschke, Thalhammer) sowie „Behinderung und Familie im System der Hilfen“ (Fries, Weiß, Lindmeier, Wagner-Stolp, Fleßa) bis hin zu „Sinngebung durch Bildung und Arbeit im Zeichen ökonomischer (An-) Forderung“ (Stinkes, Lelgemann). Nicht immer ist die Zuordnung der Beiträge zu den einzelnen Teilbereichen nachvollziehbar; die Heterogenität zwischen theoretischer und empirischer Argumentation, zwischen naivem Gesellschaftsverständnis und fundierter gesellschaftstheoretischer Argumentation, ja selbst innerhalb – soweit dies angesprochen wird – religiöser Selbstverständnisse ist groß. Dies ist einerseits ein Nachteil des Buchs, insofern der Leser bzw. die Leserin aufgrund des Titels Anderes erwartet. Auf der anderen Seite aber ist es ein Vorteil, Autoren so unterschiedlicher Provenienz in einem Band vereint zu sehen, um eine für unser Fach lebenswichtige Diskussion zu beginnen, mit der wir immer noch weit hinter vergleichbaren Diskussionsprozessen im Kontext der Gegenglobalisierungsbewegungen hinterherhinken (etwa der des Weltsozialforums oder der in den Ländern des Südens stattfindenden Auseinandersetzung zum Thema der sozialen Exklusion). Es macht Mut, dass eine gemeinsame Diskussion so ernsthafter Fragen begonnen wird, auch wenn einzelne Beiträge mich selbst weitgehend unbefriedigt lassen – aber, wie wir wissen, wird alles, was gesagt wird, von einem Beobachter gesagt. In welchen Rahmen ist diese Besprechung zu stellen, da es gänzlich unmöglich ist, allen fünfzehn Beiträgen gerecht zu werden? Ich denke, dass in der Rede des Kardinals Bergoglio vor dem vatikanischen Konzil, das er als neu gewählter Papst Franziskus verließ, ein entscheidender Ansatzpunkt zu finden ist: Beschäftigt sich eine Institution wie die katholische Kirche lediglich mit sich selbst oder kehrt sie zu sich selbst zurück und bricht von hier aus zu den existentiellen Peripherien auf: nicht nur zu den geografischen, auch zu jenen des Leidens, der Ungerechtigkeit, des Denkens, der ganzen Misere u.a.m.? Liest man den vorliegenden Band auf diese Weise, so eröffnet sich mit dem Aufzeigen der allgemeinen Misere zugleich eine Möglichkeit, mit der Misere unseres Fachs im weitesten Sinne umzugehen: Beziehe ich mich auf die Peripherie der Ökonomisierung des Sozialen, der Armut, der Ausgrenzung, so liefert der Band eine weitgehend empirische Bestandsaufnahme bezogen auf Armut und Arbeitslosigkeit (Butterwegge), Kinderarmut (Chassé), der Situation körperbehinderter Menschen (Fries) oder von Familien mit behinderten Kindern (Fries). Was aber das Wesen dieser Peripherie ist, durch welche Gewalt sie gesetzt wird, hervorgebracht wird und wie diese Mechanismen im Einzelnen zu theoretisieren sind, das fehlt mir nahezu völlig. Und immerhin existieren hierzu – ganz abgesehen von der reichhaltigen Literatur des Südens, die auch dort nicht zur Kenntnis genommen wird, wo sie englischsprachig vorliegt – wichtige soziologische Instrumente (Luhmann, Bourdieu, Beck, Sennett – um nur einige zu nennen). Theorie als analytisches Instrument scheint m.E. nur in dem Beitrag von Ursula Stinkes über „’Quasi-Alternativen’: politisch-ökonomische Funktionalisierung und ‚Humanisierungsversprechen’ der Bildung“ auf, in dessen Zentrum die Kritik einer die (Behinderten-) Pädagogik überrollenden „Phraseologie“ steht, deren neue Rede Evaluation, Qualitätsmanagement, Schulmanagement, Setzung von Bildungsstandards u.a.m. lautet, ohne dass die Doppeldeutigkeit all dieser Formeln auch nur ansatzweise in dem Blick käme. Stinkes argumentiert hier mit Deleuze und Foucault und arbeitet auf dem Hintergrund der Dimensionen des Wandels der Disziplinargesellschaft zur Kontrollgesellschaft und der sich in die Subjekte verlagernden Gouvernementalität heraus, dass es um alles andere geht, als die Dinge bloß “richtig anzupacken“. Zieht man aber den Beobachter selbst in die Situation ein, so zielt Inter-Subjektivität „auf Differenz zu sich und zum Anderen“ (368) und dies verlangt die Dekonstruktion jeglicher „Paradiesmetaphern“ (in meinem Verständnis wäre dies der undifferenzierte und vorherrschende Gebrauch von Inklusion, Empowerment und Teilhabe u.a.m.). Die Beschäftigung mit sich selbst im Sinne Bergoglios lese ich insbesondere in den Beiträgen vom Pompey und von Fleßa aus religiöser Sicht aber auch von Wagner-Stolp aus Sicht der Lebenshilfe. In einem Artikel über Behinderung und Benachteiligung aus der Sicht der Weltreligionen erwarte ich zumindest eine Kenntnisnahme der Peripherie und nicht eine Abwertung in unterschiedlichem Grade aller nicht-christlichen Religionen. Und wenn der Autor dies selbst nicht leisten kann, dann gibt es doch wohl hinreichend Hinduisten, Buddhisten, Muslime und Juden, mit denen er sich über eine sachgerechte Darstellung hätte beraten können. Und wieso kein Wort zu einer Kirche von unten, zur lateinamerikanischen Theologie der Befreiung, zur deutschen Diskussion selbst, exemplarisch etwa Dorothee Sölle? Dieser auf sich selbst bezogene Narzissmus, so Bergoglios Vorhalt an die römische Kurie, dominiert auch in dem Beitrag von Fleßa über Herausforderungen für die Diakonie und die Caritas. Von Caritas als Liebe zu reden, ohne die Kriminalgeschichte des Christentums zu berühren, ohne den kritischen Diskurs zu Diakonie und Caritas überhaupt nur zu erwähnen, ohne das angesprochene Verhältnis von Theologie und Ökonomik (346 ff.) auch nur entfernt transparent zu machen (vgl. zur Soziologie Bourdieu, zur Ökonomie Frerk) u.a.m., das kennzeichnet die Autoreferentialität als „ein Los des theologischen Narzissmus“ (Bergoglio). Zurückzukehren zur Peripherie würde bedeuten, auch die eigenen Fehler und Verirrungen im Prozess der Ökonomisierung des Sozialen beim Namen zu nennen; dies gilt auch für den Beitrag von Wagner-Stolp: Wieso erwirbt sich die Lebenshilfe regional den Ruf eines Billiganbieters? Wieso ist in keinem der hier kritisch hervorgehobenen drei Beiträge von ökonomischem Druck auf die eigene Belegschaft die Rede, der manchmal bis hin zu Mobbingstrukturen gegenüber pädagogisch engagierten Mitarbeitern reicht? Oder was ist von den zahlreichen Erklärungen von Großeinrichtungen zu halten, die sich plötzlich zu Orten der Inklusion erklären? – um hier nur einige von vielen möglichen Fragen zu artikulieren. Wenn wir als fachlich Engagierte im weitesten Sinne den herrschenden Prozessen der Ausgrenzung und Ökonomisierung standhalten wollen, so brauchen wir auch eine ehrliche Diskussion eigener Beschränkungen und Fehler. Dies bedeutet aber die Betrachtung unserer bisherigen institutionellen Arbeit mit dem Blick der Peripherie zu konfrontieren, wie dies exemplarisch durch Stinkes erfolgt. In dieser Hinsicht möchte ich vor allem den Beitrag von Hiller über die Arbeit mit jungen Strafgefangenen hervorheben, aber auch die Beiträge von Lelgemann (Menschen mit schweren [Körper-] Behinderungen und Arbeit) und von Thalhammer. Bei in vielem unterschiedlichen Standpunkten weiß ich mich mit letzterem völlig einig in seiner nicht objektivierten Sichtweise schwerster Behinderung, in der Betonung der von uns zu schaffenden und aufzunehmenden Intersubjektivität und in der Hervorhebung unserer immer wieder empfundenen „Ohnmacht“, die durch keinerlei Technik behebbar ist, aber noch lange kein „Ausgeliefertsein“ bedeutet. Zusammengefasst: Natürlich spiegelt meine kritische Lektüre meinen Beobachterstandpunkt wider und natürlich werden ebenso die kritisierten wie die nicht erwähnten Kollegen die Dinge anders sehen als ich. Aber genau hierzu hat eine Diskussion zu beginnen, die sich nicht im Narzissmus bewegt, sondern zur Peripherie gelangt.
Wolfgang Jantzen
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