Das vorliegende Buch ist ein eindrucksvolles Beispiel für die mühsame Spurensuche nach einem Menschen aus dem familiären Umfeld, der durch das Schweigen der Familie selbst der Vergessenheit anheim zu fallen
drohte.
Siegrid Falkenstein berichtet über ihre mehrjährige Suche nach der unbekannten Tante Anna Lehnkering, Jahrgang 1915, auf deren Namen sie durch Zufall 2003 im Rahmen einer Internetrecherche stieß und damit zugleich erfuhr, dass die ihr unbekannte Tante 1940 in der Tötungsanstalt Grafeneck umgebracht worden war.
Eine beeindruckend akribische Quellenrecherche über mehrere Jahre ließ ein Buch entstehen, in dem, ergänzt durch 26 Abbildungen, es der Autorin tatsächlich gelingt, der „Unbekannten“ ein Gesicht zu geben, ihren Lebenslauf nachzuzeichnen, ungeachtet aller offenen Fragen und Ungewissheiten. Geleitet von dem Motto „Wir können nichts ungeschehen machen. Aber wir können an die Verbrechen erinnern, um auf diese Weise Mitgefühl zu zeigen und vor allem, um zu lernen“ (S. 17), begann eine Spurensuche, die, angefüllt mit Funden aus Dokumenten, Gesprächen, Literatur und Fotos, das Mosaik einer Biografie entstehen ließ, das über die verschiedenen Lebensstationen dieses jungen Menschen bis zu seiner Vernichtung mit 24 Jahren reicht.
Durch die gewählte persönliche Anrede, häufig in Frageform, wird ein hohes Maß an Empathie erzeugt, wird immer wieder versucht, eine Ahnung von der jeweiligen Lebenssituation der unbekannt gebliebenen Tante zu bekommen. Dieser persönliche Zugang berührt – und doch bleibt auch bei der forschenden Nichte das Gefühl des „Nichtbegreifens“ (S. 120).
Die Autorin selbst ist Teil einer Familie, die mit Schweigen und Verdrängen auf den Tod von Anna nach Kriegsende reagierte. Genau dieses verstörende Phänomen begründet eine „Verpflichtung…, gegen das Vergessen und für die Erinnerung zu arbeiten“ (S. 130). Es ist überzeugend zu lesen, dass nur die Angehörigen selbst bezeugen können, dass die Opfer keine anonyme Masse (S. 143) waren, sondern unverwechselbare
Menschen mit einer ihnen eigenen Würde.
Das Buch ist getragen von politischem Engagement und Empathie – Empathie nicht nur gegenüber den Opfern, sondern auch gegenüber der eigenen Familie, deren Geschichte in die Nöte und Existenzängste von Menschen während der NS-Herrschaft und den Jahren des Krieges eingebettet ist. Der historiographische Wert der Publikation liegt nicht nur in der einfühlsamen Biografie über ein Opfer der NS-Rassenpolitik, die stets in die zeitgeschichtlichen Parameter eingebettet ist, sondern vor allem in der von der modernen Geschichtsschreibung geforderten Standortgebundenheit. Diese Standortgebundenheit steht am Anfang des Buchs und sie beschließt es, wenn im letzten Kapitel dem gesellschaftlichen Umgang mit den „Euthanasie“-Verbrechen nach Kriegsende Raum gegeben wird.
Nicht nur Schuld und Versagen der Psychiatrie werden thematisiert, sondern auch das Versagen bundesrepublikanischer Politik, die den Opfern der „Euthanasie“ eher mit Desinteresse begegnete. Dass es einen „Runden Tisch“ zur Aufarbeitung der „Euthanasie“-Verbrechen gibt, dass laut Beschluss des Deutschen Bundestags von 2011 ein politischer Wille formuliert wurde, den Opfern der „Euthanasie“ in der ehemaligen Tiergartenstraße 4 in Berlin (vor der Philharmonie) eine neue Gedenkstätte zu errichten, ist vor allem das Verdienst von Sigrid Falkenstein. Wenn im Jahre 2013 dieses Denkmal eingeweiht wird, dann sind nach den Sinti und Roma endlich auch jene behinderten Menschen, die der Vernichtung im Dritten Reich preisgegeben wurden, als Opfergruppe des NS-Staats anerkannt.
Dem Buch ist eine breite Leserschaft zu wünschen – nicht nur aus dem Bereich der Rehabilitation. Vor allem jungen Menschen vermag die Biografie einen Zugang zu jener deutschen Epoche zu vermitteln, die zu den dunkelsten zählt und über die bald keine Zeitzeugen mehr berichten können, die aber unauslöschbarer Teil deutscher Geschichte ist.
Sieglind Ellger-Rüttgardt
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