Mit der Wahl ihres Themas trifft Christine Preißmann ins Schwarze: Das männliche Geschlecht steht eindeutig im Vordergrund, wenn man über das Asperger-Syndrom liest oder forscht. Die Mädchen und Frauen werden nur stiefmütterlich behandelt oder, noch schlimmer, schlicht ignoriert. Das scheint Tradition zu haben, denn bereits der Erstbeschreiber, Hans Asperger, der dem Syndrom seinen Namen gab, beschrieb ausschließlich Jungen in seiner Habilitationsschrift. Indem man im Titel des Buches die Bezeichnung „Syndrom“ vermieden hat und nur noch den Namen des Wiener Heilpädagogen nennt („Mädchen & Frauen mit Asperger“), möchte man vielleicht eine einseitige Fokussierung auf die Defizite der Mädchen und Jungen vermeiden. Dies ist sicher angemessen, es erscheint aber sprachlich auch ein wenig zu salopp, wird doch ein ernstes und wichtiges Thema behandelt. Man geht davon aus, dass das Asperger-Syndrom bei Jungen und Männern um ein Vielfaches häufiger auftritt als bei Mädchen und Frauen. Doch könnte es vielleicht auch sein, dass bei diesen die Symptomatik schlicht seltener erkannt und richtig diagnostiziert wird? Insofern hat das „Überraschend anders“ aus dem Titel seine Berechtigung. Mädchen und Frauen mit Asperger-Syndrom zeigen oftmals andere Verhaltensweisen als Jungen und Männer mit der gleichen Diagnose. Sie unterliegen auch anderen kulturellen Erwartungen. Das legt die Autorin schlüssig dar (S. 8ff.). Oftmals sind sie zurückhaltend, wirken eher schüchtern und scheu und erzeugen so bei ihren Eltern, Kindergärtnerinnen und Lehrern keinen dringenden Handlungsbedarf. Den gibt es bei Jungen mit Asperger-Syndrom vor allem dann, wenn diese sich aggressiv verhalten oder mit ihrem Verhalten eine Gruppensituation im Kindergarten oder der Schule sprengen. Doch dies hat seinen Preis. Den Mädchen entgehen wichtige Hilfen und Chancen auf Unterstützung. Sie ziehen sich ja zurück, weil sie soziale Situationen nicht verstehen, von Reizen überflutet werden. Doch ihre Not wird oft nicht erkannt. Die Autorin muss das wissen, hat sie doch selbst das Asperger-Syndrom. Sie berichtet also mit einer Innenperspektive und kann sich deshalb diesem, in der deutschsprachigen Fachliteratur fast vollständig ausgespartem Thema in einer ganz besonderen Weise nähern. Und es gelingt ihr in einer gut lesbaren Form. Die vielen konkreten Beispiele machen es dem Leser einfach, sich in diese manchmal so fremde Erfahrungswelt einzufühlen. Zugleich ist Dr. Christine Preißmann aber auch Ärztin und Psychotherapeutin und kann das Thema auch aus der Perspektive einer Professionellen betrachten. Dabei hat sie sich für dieses Buch noch Unterstützung geholt. Vier weitere Frauen mit Asperger-Syndrom, zwei Mütter von Töchtern mit Asperger-Syndrom, eine Ergotherapeutin und die Leiterin des Autismus-Therapie-Zentrums in Oldenburg erzählen ebenfalls von ihren Erfahrungen. Die einzelnen Kapitel des Buches sind im Wesentlichen an der Lebensgeschichte orientiert: nach der „Zeit der Kindheit“ (S. 15-50) geht es um die „Herausforderungen der Pubertät“ (S. 51-88), „Das Leben als erwachsene Frau“ (S. 89- 144). Den Rahmen dafür bilden ein einführender Abschnitt „Asperger-Mädchen sind anders anders“ (S. 8-14) und das abschließende Kapitel „Selbsthilfe und therapeutische Begleitung“ (S. 145-182). Das Buch richtet sich sowohl an Mädchen und Frauen, die selbst das Asperger-Syndrom haben, als auch an deren Lebensbegleiter: Eltern, Kindergärtnerinnen, Therapeuten, Pädagogen, Ärzte, Sozialarbeiter, Ausbilder, Arbeitgeber ... Es bleibt zu hoffen, dass es einen breiten Leserkreis findet und somit die Aufklärungsarbeit geleistet werden kann, die der Autorin so am Herzen liegt.
Brita Schirmer
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