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Meine andere Welt. Mit Autismus leben
Gabrijela Mecky Zaragoza

Was geschieht, wenn eine promovierte, als Kroatin geborene und in der Bundesrepublik aufgewachsene und mit ihrem Mann in der Zwischenzeit in Mexiko-Stadt lebende Germanistin mit Asperger-Syndrom ein Buch über ihr Leben schreibt? Zudem, wenn es jemand ist, der über sich selbst sagt: „Wer mich kennt, der weiß: Ich analysiere fast alles, was mir in die Quere kommt – und jeden, mich selbst eingeschlossen“ (S. 133)? Wenn dieser Mensch sich „selbst zum Forschungsgegenstand“ (S. 32) macht? Und dem Leser eine aufregende Geschichte zu erzählen hat, vom Leben auf unterschiedlichen Kontinenten, als Adoptivtochter in einem anderen Land aufwachsend, mit dem Partner in drei Sprachen sprechend (S. 149) und damit nicht nur wegen einer medizinischen Diagnose oft zwischen verschiedenen Welten unterwegs? Es entsteht ein Text, der intellektuellen Genuss bereitet, der eine angenehm leicht lesbare Sammlung gut gegliederter, akribischer Selbstbeobachtungen und -analysen auf der Grundlage einer sympathischen Selbstdistanz und -ironie ist. Es gelingt der Autorin, auch Momente aus ihrem Leben verständlich und Verhaltensweisen nachvollziehbar zu machen, die unter anderen Umständen rätselhaft, vielleicht sogar irritierend geblieben wären. Wie die Leidenschaft für Wiederholungen, die sich wie ein roter Faden durch das Leben der Autorin zieht: „Die Bluse, die ich jetzt gerade trage, also beim Schreiben dieses Absatzes, habe ich noch zwölf Mal im Schrank hängen, allerdings in vier verschiedenen Farben. Sie ist schön und schlicht und war dazu recht preiswert, möchte ich zu meiner Verteidigung anführen, umgerechnet acht Euro das Stück, aber um Geld geht es mir ohnehin nicht. Gewisse Hortzwänge mögen mit im Spiel sein, das gebe ich zu, Konsumsüchte weniger, geht es mir doch in erster Linie darum, das Problem ‚Bluse’ möglichst effizient und elegant zu lösen. Das bedeutet: Ohne mir die Hände wund zu waschen, kann ich so und nur so an jedem Tag der Woche das gleiche Modell tragen, wobei drei Exemplare für besondere Anlässe und drei für zukünftige reserviert bleiben. Diese Bluse ist ein Extremfall und bleibt als solcher ein Einzelfall. Ein Blick in den Schrank verrät jedoch, dass ich zudem Hosen, Röcke und Oberteile zweifach, dreifach, vierfach oder fünffach habe, die handgemachte Ledertasche mit dem Blumenmuster von einem mexikanischen Straßenkünstler sogar sechsfach, allerdings wiederum in drei Größen und variierenden Farbnuancen. Auch in anderen Lebensbereichen bin ich eine unverbesserliche Wiederholungstäterin. Ich sehe am liebsten hundert Mal den gleichen Film, esse am liebsten immer am gleichen Ort und immer die gleichen Mahlzeiten am Tag, wobei es jedes Wochenende zur Abwechslung fünf kleine Vollkornpfannkuchen zum Frühstück gibt, und wenn ich zurückblicke, dann habe ich mein Leben bisher ausschließlich mit drei Dingen verbringen wollen: Bahnen schwimmen, Literaturwelten entdecken, Wissenschaften betreiben“ (S. 17f.). Ihre Reflektiertheit reicht dabei so weit, dass sie sich auch bei der Analyse ihres eigenen Lebens der Risiken ihrer Perspektive bewusst ist: „die Reise nach innen anzutreten und als Autistin über den eigenen Autismus zu schreiben, ist dennoch eine Herausforderung, eben weil aus dem Autismus heraus gefühlt, gedacht, geschrieben wird, zu dessen markanten Merkmalen Detailobsessionen und Tunnelblicke gehören. Selbst die bewusste Erweiterung eines autistischen Blickwinkels kann ihre Tücken bergen. Denn alles, was man hört, sieht, liest, hinterlässt seine Spuren, setzt sich fest, insbesondere in autistischen Gehirnwindungen, prägt den Blick, formt den Gedanken und kann langfristig das Risiko erhöhen, sich zu verzetteln oder etwas zu Papier zu bringen, was vom eigenen Erleben bereits zu stark entfernt ist“ (S. 32). Sie nennt ihr Buch deshalb ein „Schreibexperiment“ (S. 32) und es ist ein rundum gelungenes. Und so unwahrscheinlich das bei einer Autorin mit Asperger-Syndrom auch klingen mag: Bei der Lektüre des Buches hat man den Eindruck, man hörte einer guten, klugen Freundin zu. Man amüsiert sich ab und zu köstlich über die mit einem Schmunzeln erzählten Geschichten. Wie sie z.B. ihrem Mann Abend für Abend ein Vollkornbrötchen mit Frischkäse serviert und seine Anspielungen darauf, dass er der Eintönigkeit langsam überdrüssig würde, nicht verstehen kann (S. 89f.). Gabrijela Mecky Zaragoza gelingt das (nicht nur für Menschen mit Asperger- Syndrom schwierige) Kunststück einer langjährigen Liebesbeziehung, weil sie ihren Geliebten „zum Spezialinteresse aus Fleisch und Blut“ (S. 83) werden lässt. Ganz zu Unrecht zweifelte sie in ihrem Leben an ihren schriftstellerischen Qualitäten außerhalb des wissenschaftlichen Kontextes, in dem sie sich bereits unzählige Male bewiesen hat: „mir fehlte nicht nur die Lust an der Selbstdarstellung und dem Smalltalk, sondern oft auch das Gespür, was ich wo, wann, wie schreiben konnte, ohne in eine der vielen Kommunikationsfallen zu tappen: zu direkt, zu indirekt, zu offen, zu verschlossen, zu ernst, zu witzig, zu lang, zu kurz, zu dies, zu das“ (S. 67). Sie tappt mit dem 156 Seiten umfassenden Buch in keine Kommunikationsfalle und kann die ihres Alltags so fesselnd beschreiben, dass man es fast nicht aus der Hand legen möchte. Ihr eigenes Verhalten schildert sie schonungslos und radikal ehrlich, z.B. auch die Verletzungen, die sie ihren Eltern als Kind unabsichtlich zugefügt hat. Man kann diese Ehrlichkeit dem Autismus zuschreiben. Fehlt ihr deshalb die „Lust an der Selbstdarstellung“ (ebd.)? Oder hat sie es nur einfach nicht nötig, sich in besserem Licht darzustellen als sie sich selbst sieht? Bestandteil einer Pathologie also oder menschliche Größe? Einmal mehr lässt das Buch nachdenken über die fragile Grenze zwischen „normal“ und „gestört“. Mit welchem Adjektiv wollte man das Verhalten der Autorin belegen? Und wie bezeichnet der Leser seines, vor allem, wenn er sich in dem einen oder anderen Absatz wiedererkannt hat? Oder sein Kind, den Partner, die Freundin? Schade nur, dass dieses wunderbare Buch einen so langweiligen Titel hat.

 Brita Schirmer

 

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