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Pädagogik bei Krankheit
H. Frey, A. Wertgen (Hrsg.)

Pädagogik bei Krankheit und Schule für Kranke sind Felder „zwischen allen Stühlen“. Parallel zu einem kaum übersehbaren Spektrum an Konzepten und Realisierungsformen gibt es einen sehr erheblichen Forschungsbedarf und bisher nur allzu wenig wissenschaftliche Auseinandersetzung, von einigen Ausnahmen abgesehen. Verkomplizierend kommen die aktuelle Inklusionsdiskussion und die von ihr ausgehende sehr dynamische Entwicklung hinzu, in deren Rahmen die Schule für Kranke eine wichtige, unter Umständen brisante Rolle spielen könnte, und aus der heraus auch für diese Schulform erhebliche Änderungen resultieren könnten. Ob dies positive oder aber sehr problematische Änderungen sein mögen, bleibt abzuwarten. Daher stößt das mit fast 400 Seiten recht umfassende Herausgeberwerk von Frey und Wertgen in die doppelte Lücke der Darstellung eines zu wenig beachteten pädagogischen Handlungsfelds in spannenden interdisziplinären Bezügen sowie der Diskussion seiner Entwicklungsbedarfe und -perspektiven. Entsprechend der Herkunft der Herausgeber ist, worauf diese auch hinweisen, das Autorenfeld stark auf Nordrhein-Westfalen zentriert, mit Schwerpunkt in der Essener Ruhrland-Schule. Das Buch enthält 21 inhaltliche Beiträge, welche drei Hauptteilen zugeordnet werden: acht Beiträge zu „Untersuchungen und konzeptionellen Überlegungen“, fünf Beiträge zu „fachdidaktischen und methodischen Aspekten“ sowie acht Beiträge zu „besonderen pädagogischen Angeboten“. Um nur einige Beispiele und Themen für das inhaltliche Spektrum anzusprechen, geht es dabei um die Optimierung der Arbeit durch den Einsatz evidenzbasierter Konzepte (Hillenbrand), um Forschungsberichte (Teschner; Weber, Welling & Steins), um Nachteilsausgleich (Schmidt) oder um den Umgang mit Schulabsentismus und Burnout (Oelsner; Wertgen & Reissner; Wertgen). Viele Beiträge präsentieren praxisnah die Arbeit in konkreten Förderbereichen und Projekten – eine zentrale Intention des Buchs, wie einleitend deutlich wird. Es sind verschiedene systematische, vertieft reflektierende Beiträge zu finden, welche zugleich die Brücke zwischen Theorie und Literaturrecherche einerseits und Praxis andererseits gelungen schlagen. Manche Beiträge bewegen sich eher im Randbereich des Themas. Verschiedene Praxisberichte kommen leider ohne Literaturbezüge aus. Wünschenswert und bereichernd wäre ein abschließendes Kapitel der Herausgeber gewesen, in dem ein (vorläufiges) Fazit gezogen und ein Ausblick gewagt wird. Besonders hervorzuheben sind die zentralen konzeptionellen Beiträge: die ausführliche Einleitung von Frey&Wertgen, die Diskussion allgemeiner Charakteristika des Unterrichts an der Schule für Kranke sowie die Reflexion zu Bildungsgerechtigkeit (Wertgen). Hier werden in einem enorm heterogenen Feld Grundlagen geschaffen und Strukturen herausgearbeitet, die es weiterzuentwickeln gilt. Etwas unklar bleibt die Positionierung im Inklusionsprozess: Einerseits wird die Schule für Kranke etwas gewagt, als „inklusive“ Schule dargestellt, andererseits jedoch auch als gesondertes und damit phasenweise exklusives Schulangebot bei Krisen angeboten. Die Reintegration in Regelschulen in einem inklusiven schulischen System als zentrale Aufgabe wird betont, aber die unter Umständen wichtige Option der Kooperation mit Sonder- oder Förderschulen zu wenig beleuchtet – so wäre anzunehmen, dass einer gezielten Förderung durch Schulen für Körperbehinderte oder für Erziehungshilfe einige Bedeutung zukäme. Als Kooperationspartner in einem medizinisch geprägten System der Kliniken (für organische Erkrankungen, für Kinder- und Jugendpsychiatrie) bei zugleich pädagogischem Auftrag sind hier kritisch zu begleitende Entwicklungswege der Schulen für Kranke vorstellbar; die Funktionen der angesprochenen Förderschulen dürften nicht einfach in verantwortungsvoller Weise ersetzbar sein. Eine solche – kritische und mutige – Diskussion wäre einen ergänzenden Beitrag in diesem durchaus gelungenen Buch wert gewesen. Die inhaltlichen Beiträge werden durch einen sehr nützlichen und sorgfältig erarbeiteten „Serviceteil“ ergänzt, in dem sich zum einen eine von Alexander Wertgen besorgte kommentierte Bibliographie deutschsprachiger Monographien zum Themenfeld „Pädagogik bei Krankheit“ ab 1995, zum anderen eine von Josef Holtkamp verantwortete, gleichfalls kommentierte Übersicht relevanter Webseiten findet. Beide Zusammenstellungen zeigen, dass für dieses Themenfeld in den letzten Jahren zunehmend Aufmerksamkeit entstanden und eine dynamische Entwicklung zu verzeichnen sind. Die Leistung von Herausgebern und Verlag ist bemerkenswert. Hinter dem Buch steckt offenkundig viel Mühe; es deckt ein breites inhaltliches Spektrum ab, ist spannend zu lesen und verlegerisch hervorragend bearbeitet. Eine besondere Herausforderung liegt sicher darin, die Brücke zu schlagen zwischen den durchaus unterschiedlichen Aufträgen der Betreuung von Kindern und Jugendlichen mit somatischen Erkrankungen einerseits und psychischen Störungen andererseits. „Dazwischen“ stehen zwar psychosomatische Erkrankungen, aber dennoch stellt sich die Frage, inwiefern sich dieser Spagat auf Dauer als gangbar erweisen wird oder ob sich nicht doch durchaus unterschiedliche Konzeptionen entwickeln werden (müssen). Von der Entwicklung zeugt, dass ein bemerkenswerter Schwerpunkt im Verlauf des Buchs auf das Thema Schulabsentismus gelegt wird, welches wiederum ganz besondere Aufgaben mit sich bringt. So, wie sich Pädagogik für Krankheit aktuell darstellt, musste dieses Spektrum Berücksichtigung finden. Im Gesamtbild stellt das Buch einen bunten Baukasten dar. Die Gliederung der Hauptteile ist eher locker; es gibt viele Verbindungen, Querbezüge und Überlappungen. In den zahlreichen Beiträgen wird das Thema von verschiedensten Positionen her und im Hinblick auf unterschiedlichste Aspekte beleuchtet. Damit liegt hier kein systematisches Lehrbuch vor, wohl jedoch eine spannende Zusammenstellung von Beiträgen zu einem bisher allzu wenig beleuchteten Thema. Dies repräsentiert den aktuellen Stand des Arbeitsbereichs Pädagogik bei Krankheit, der es in seiner aktuellen Verfasstheit auch schwer bis unmöglich machen würde, ein systematisches Lehrbuch erfolgreich zu schreiben. In diesem Sinne ist das Herausgeberwerk von Hermann Frey und Alexander Wertgen ein wichtiger Meilenstein der konzeptionellen Arbeit an Schulen für Kranke. Es ist unbedingt lesenswert für alle, die in diesem Bereich arbeiten oder sich für ihn interessieren. Erneut wird angesichts der Inhalte dieses Buches ein sehr großer Forschungs- und -entwicklungsbedarf offenkundig. Dem Buch seien sehr viele interessierte Leser gewünscht.

Roland Stein

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