Diese Seite verwendet Cookies. Mit der Benutzung der Seite stimmen Sie der Verwendung von Cookies zu und akzeptieren unsere Datenschutzerklärung.
Zur Effizienz von Schulen für Lernbehinderte - Forschungsergebnisse aus vier Jahrzehnten
Irmtraud Schnell, Alfred Sander, Claudia Federolf (Hrsg.)

Für die gleiche schulische Institution, die lange Zeit offiziell „Hilfsschule“ (in der Deutschen Demokratischen Republik bis zum Beitritt in die Bundesrepublik Deutschland) und später „Sonderschule für Lernbehinderte“ hieß, werden seit einigen Jahren in den 16 deutschen Bundesländern elf unterschiedliche Bezeichnungen (alle übrigens unter Verzicht auf „Sonderschule“) verwendet. So mag es erstaunen, dass im Titel der zu besprechenden aktuellen Schrift noch der Terminus „Schule für Lernbehinderte“ auftaucht. In allen Bundesländern mit Ausnahme von Sachsen-Anhalt werden inzwischen Bezeichnungen verwendet, die nicht mehr auf die spezielle Population („Lernbehinderte“), sondern auf die spezielle pädagogische Aufgabe (z. B. „Lernförderung“) abheben. Dabei ist die Vielfalt der Bezeichnungen imponierend. Mit diesem Phänomen hat sich Alfred Sander, einer der drei Herausgeber des zu besprechenden Bands, in einer eigenen kurzen, aber differenzierten Abhandlung „Hilft die Umbenennung?“ kritisch auseinandergesetzt. Er bezweifelt, dass sich durch veränderte Namensgebungen Diskriminierungen der Schülerschaft vermeiden und Aufwertungen der Schulform erreichen lassen. Im Übrigen habe „man es offensichtlich mit einem Spielplatz zum Austoben von Kulturhoheit der Bundesländer zu tun“ (S. 52). Vor dem Hintergrund dieses terminologischen Wirrwarrs macht es Sinn, dass für den Buchtitel die früher gebräuchliche einheitliche Bezeichnung der Schulform gewählt wurde. Hinzu kommt, dass sich die Schrift auf viele Untersuchungen bezieht, die noch vor der Phase der Umbenennungen durchgeführt worden sind. Eingeleitet wird der Band mit einer sehr kundigen und facettenreichen Kritik von Irmtraud Schnell an der Ideologie der gesellschafts- und bildungspolitischen Kräfte, die zur Gründung und Existenzsicherung der Sonderschule für Lernbehinderte geführt hat und sich bisher gegenüber allen vernünftigen, wissenschaftlich untermauerten Argumenten behaupten konnte. Die Autorin zeigt dabei auch zahlreiche Schwachstellen im System der separierten Beschulung auf, die die Qualität der pädagogischen Arbeit betreffen. In diesem Zusammenhang nimmt sie eine wichtige Erklärung für die später dargestellten Befunde vorweg: „Im Vergleich zu heterogen zusammengesetzten Lerngruppen kann diese ausgelesene Population den einzelnen Schülern Lernanreize nur in begrenztem Maß bieten“ (S. 29). In Weiterführung dieses Gedankens wird man zu dem Schluss kommen, dass selbst auch sehr engagierte und fachlich hoch qualifizierte Lehrkräfte in Sonderschulen für Lernbehinderte längst nicht ihr verfügbares pädagogisches Potenzial zur vollen Wirkung bringen können. Nun sind viele der von Schnell vorgebrachten kritischen Argumente keineswegs neu, sondern in zahlreichen Veröffentlichungen in die fachlich-wissenschaftliche Diskussion gebracht worden und haben dort auch kaum ernsthaften Widerspruch gefunden. Dennoch ist ihr Einfluss auf bildungspolitische Entscheidungen in Deutschland nur sehr gering geblieben. So hätten diese Erkenntnisse eigentlich zu einem schnellen und konsequenten Ausbau von pädagogischen Unterstützungssystemen in den Allgemeinen Schulen bei gleichzeitiger Schließung von Sonderschulen für Lernbehinderte führen müssen. Eine solche Konsequenz ist aber bisher flächendeckend lediglich in Bremen sowie teilweise in Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig- Holstein, ansonsten nur vereinzelt auf regionaler Ebene erfolgt. Angesichts dieser Situation ist es als ein verdienstvoller Entschluss der Herausgeberinnen und des Herausgebers zu werten, die Fachöffentlichkeit erneut mit einigen dieser argumentativ starken, aber zum Teil nicht mehr leicht zugänglichen Forschungsergebnissen in kompakter Form zu konfrontieren. Zu diesem Zweck haben sie neun besonders prägnante Forschungsberichte und empirische Originalarbeiten, die erstmals zwischen 1966 und 2007 veröffentlicht worden sind, ausgewählt und unverändert abgedruckt. Darüber hinaus hat Claudia Federolf Kurzfassungen von 45 weiteren deutschsprachigen Arbeiten, in denen die Wirksamkeit der Sonderschule für Lernbehinderte im Vergleich zur Beschulung in Regeleinrichtungen anhand der üblichen Kriterien schulischen Lernerfolgs mittels empirisch-analytischer Methodik untersucht wurde, in chronologischer Folge dargestellt und mit einem forschungskritischen Kommentar versehen. Alle in diesem Band zusammengetragenen empirischen Befunde zeigen die gleiche Tendenz: Anhaltspunkte für eine deutlich positive Wirksamkeit der Sonderschule für Lernbehinderte lassen sich nicht finden, dagegen zeigen sich oft nachteilige Effekte der separierten Beschulung. Damit liefert die Schrift wichtiges Material, wenn im Zuge der Umsetzung der UN-Konvention zur Inklusion strukturelle bildungspolitische Entscheidungen zu treffen sind. Zugleich regt sie insbesondere Studierende der Sonderpädagogik an, über Möglichkeiten der pädagogischen Arbeit für Kinder und Jugendliche mit beeinträchtigten Lernmöglichkeiten auch außerhalb von Sonderschulen nachzudenken und diese Überlegungen in ihre berufliche Perspektivenbildung einzubeziehen.

Reimer Kornmann

zurück
Information