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Das große NEIN zur Schule:Trennungsangst und Schulphobie - Ursachenforschung, soziale Wahrnehmung in der Schule und Maßnahmen der Intervention
Pia Anna Weber

Schulvermeidendes Verhalten ist mit gravierenden Gefahren für die  Entwicklung der betroffenen Kinder und Jugendlichen verbunden.  Erfahrungsgemäß werden schulvermeidende Kinder und Jugendliche  mit sozial auffälligem, insbesondere mit dissozial-oppositionellem  Verhalten sowohl in der Schule als auch in anderen sozialen  Zusammenhängen wesentlich eher wahrgenommen als der stille,  sich oftmals eher schleichend vollziehende soziale Rückzug von  Schülern, die schulvermeidendes Verhalten infolge von Trennungsangst  und Schulphobie zeigen. Diese Jugendlichen verhalten sich  weitgehend systemkonform und stören nur selten den Unterricht  und schulische Abläufe. Überdies werden sie – wie viele Kinder und  Jugendliche mit schulvermeidendem Verhalten im Allgemeinen –  von Mitschülern wie Lehrern als sozial wenig attraktiv wahrgenommen.  Vielleicht halten sich auch deshalb die Bemühungen vieler  Schulen um Reintegration schulvermeidender Schüler erfahrungsgemäß  eher in Grenzen.  Pia Anna Weber greift in ihrer Dissertation ein lange vernachlässigtes  Thema mit interdisziplinärem Bezug u. a. zu Schulpädagogik,  Pädagogischer Psychologie und Sozialpsychologie auf.  Zugleich  leistet sie einen Beitrag zur Verbesserung der empirischen  Forschungslage. Die Autorin demonstriert, dass es pädagogisch  unangemessen und sachlich falsch wäre, Schulvermeidung als  ein vorwiegend individuelles Problem des einzelnen Schülers zu  sehen.  Schulvermeidendem Verhalten liegt vielmehr ein komplexes  Bedingungsgefüge  zugrunde, dessen vielfältige Wechselbeziehungen  – darauf weist die Autorin hin – lange noch nicht zufriedenstellend  erforscht sind. Damit kann sie nicht zuletzt dazu beitragen,  dass die Ursachen für schulvermeidendes Verhalten zukünftig  weniger  monokausal bei den betroffenen Kindern und Jugendlichen  gesehen werden, sondern dass Schulabsentismus vielmehr als Ausdruck  einer multifaktoriell bedingten Problemlage verstanden wird.  Im Theorieteil ihrer umfangreichen Studie umgrenzt und spezifiziert  Weber ihren Forschungsstand, indem sie sich dem Bedeutungsgehalt  der Begriffe „Schulphobie“ und „Trennungsangst“  verstehend  annähert. Dabei berücksichtigt sie auch begriffsgeschichtliche  Aspekte.  Aus psychologisch-diagnostischer Perspektive beschreibt  sie daraufhin das Phänomen des Schulabsentismus.  Sie geht hier auf  die Erscheinungsformen, die Epidemiologie, Komorbidität, Pathogenese,  die Prognose und die Grade der Störungsausprägung  von  Trennungsangst und Schulphobie ein und beschreibt differenziert  Interventionsmaßnahmen, deren Wirksamkeit sie anhand übergreifender  Merkmale darstellt und diskutiert. Zentrale Ergebnisse  der Ursachenforschung referiert Weber im Anschluss.  Die Darstellung und Diskussion des einschlägigen Forschungsstandes  führt Weber schließlich zur Entwicklung empirischer  Fragestellungen,  mit denen sie zum Empirieteil, dem Hauptstück  ihrer Untersuchung, überleitet. Ausgehend von der Grundannahme,  dass die Familie und die Schule sowie ggf. die Therapie als zentrale  soziale  Bezugssysteme entscheidenden Einfluss auf den Verlauf  von Trennungsangst und Schulphobie nehmen, stellt Weber  drei Grundfragen, denen sie jeweils eine Untersuchung widmet.  In der ersten Untersuchung fragt die Autorin nach den Ursachen  einer emotionalen Störung mit Trennungsangst, die sie explorativ  untersucht. Weber  kommt im Allgemeinen zu dem Schluss, „dass  die Ursachen  für eine Schulphobie in der Familie liegen“ (214). In  diesem Zusammenhang  verweist sie z. B. auf kritische Lebensereignisse  bei Kindern und Jugendlichen und auf den Verlust bzw. den  Wechsel von Bezugspersonen. Die zweite Untersuchung geht der  Frage nach, wie Lehrer und Mitschüler trennungsängstliche Schüler  sozial wahrnehmen. Die Autorin stellt hier zunächst ein Wissensdefizit  fest, das es den befragten Lehrern erschwert, zwischen den  von ihnen  wahrgenommenen Formen schulvermeidenden Verhaltens  sowie  deren Ursachen und Symptomen zu unterscheiden.  Weber stellt u. a. fest, „dass über die Hälfte der befragten Lehrer  trennungsängstliche und schulphobische Kinder im Unterricht  als störend erleben“ (216). In der dritten Untersuchung schließlich  fragt Weber nach den Effekten von Interventionsmaßnahmen  in der Arbeit  mit Kindern und Jugendlichen mit schulvermeidendem  Verhalten. Ernüchternd fällt ihr Fazit aus, dass drei von vier  Schülern  trotz individueller Betreuung und Schulbegleitung einen  regelmäßigen  Schulbesuch nicht wieder aufgenommen haben. Die  Fallbeispiele zeigen deutlich, wie wichtig die aktuelle Unterstützung  des Schulbesuchsverhaltens durch das Elternhaus ist und dass  soziale Distanz zu Mitschülern nach längeren Fehlzeiten anwachsen  und die Rückkehr in die Schule  erschweren kann.  Relativierend gibt Weber zu bedenken, dass die Fallzahlen ihrer  Untersuchungen  recht niedrig sind und dass die selbst konstruierten  bzw. überarbeiteten Fragebögen zwar auf standardisierten Fragebögen  beruhen, dass diese jedoch modifiziert worden sind. Die  Autorin hat die modifizierten Fragebögen jeweils einem Vortest unterzogen, ehe sie sie für ihre wissenschaftliche Studie verwendet  hat. Diese Einschränkungen spiegeln letztlich auch die allgemein  knappen Ressourcen für pädagogisch-psychologische Schulabsentismus-  Forschung wider. Der Entscheidung über die Vergabe  finanzieller Mittel scheint derzeit oftmals ein verkürztes Verständnis  der Schulabsentismus-Problematik zugrunde zu liegen.  Die Arbeit Webers enthält nicht zuletzt bildungspolitische und  -  ökonomische Implikationen. Obgleich schulvermeidendes Verhalten  zu großen Teilen eine schulische, allgemein eine pädagogische  Herausforderung ist, werden die Schulen nicht mit den erforderlichen  Ressourcen ausgestattet, um sich dieses Problems intensiv  und effektiv annehmen zu können. Angesichts von medizinischen  und psychologisch-psychotherapeutischen Forschungsaktivitäten  und Veröffentlichungen zu diesem Thema stellt sich die Frage,  welche  Annahmen ursächlich für Entscheidungen sind, Schulphobie  und Trennungsangst insbesondere unter diesem  Aspekt  erforschen zu lassen oder bei einer zugrunde liegenden externalisierenden  Problematik mit dissozial-oppositionellem Verhalten  vorwiegend sozialpädagogisch ausgerichtete Reintegrations- bzw.  Beschäftigungsmaßnahmen  außerhalb  des öffentlichen Schulsystems  für die betroffenen Kinder und Jugendlichen zu finanzieren.  Dabei können, wie Webers Untersuchungen bestätigen, Interventionen  v. a. dann wirkungsvoll und zielführend sein, wenn verschiedene  professionelle Akteure vernetzt zusammen arbeiten. Dies zeigt,  dass Schulabsentismus auch eine strukturelle Herausforderung für  alle beteiligten Systeme bzw. Institutionen ist. Ressourcen einseitig  zu verteilen ist weder sachlich angemessen noch wirtschaftlich vernünftig.  Unabhängig von diesen eher grundlegenden Überlegungen, die der  vorliegende Band anstoßen kann, finden hier auch Leser, die sich  mit dieser Arbeit aus vorwiegend handlungspraktischem Interesse  befassen, vielfältige Hintergrundinformationen zu den Störungsbildern  Schulphobie und Trennungsangst sowie Hinweise, die das  Fallverstehen erleichtern können. Weber eröffnet überdies einen  realistischen Blick auf pädagogische Handlungsspielräume und  auf Erfolgsaussichten pädagogischen Engagements in der Arbeit  mit Kindern und Jugendlichen mit schulvermeidendem Verhalten.  Damit trägt sie zu einer Professionalisierung dieser Arbeit bei, die  ansonsten für alle beteiligten Akteure nicht selten mit hohen Frustrationen verbunden sein kann. 

Alexander Wertgen 

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