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Pädagogik der Abgrenzung. Die Implementierung der Rassenhygiene im Nationalsozialismus durch die Sonderpädagogik
Werner Brill

Die von Werner Brill vorgelegte Arbeit wurde 2010 als Habilitationsschrift an der Universität Oldenburg angenommen. Ziel der Untersuchung Brills ist es, die Einbindung sonderpädagogischer Professioneller in den Nationalsozialismus genauer aufzuklären und zwar am Beispiel der Einbindung der Sonderpädagogen und Sonderpädagoginnen in bevölkerungspolitische Maßnahmen. Zu Recht hält Brill eingangs fest, dass die historische Forschung innerhalb der Sonderpädagogik nach wie vor unterentwickelt sei und vorab dezidiert interessegeleitete Standpunkte die historische Aufarbeitung zuweilen erschweren. In der Tat hat erst in jüngerer Zeit auch die Allgemeine Erziehungswissenschaft, die Schulpädagogik, aber auch die Geschichtswissenschaft Behinderung, sonderpädagogische Institutionen und Professionen als Forschungsfeld entdeckt – nicht zuletzt auch befördert durch die sich gerade etablierenden Disability Studies. Als explizite Forschungshypothesen werden von Brill die drei folgenden Fragen aufgeworfen: a) Inwiefern bezieht sich die Sonderpädagogik auf die Eugenik? b) Inwiefern war die Hilfsschule zu Beginn des Nationalsozialismus in ihrem Bestand gefährdet und bedurfte einer ‚Rettung‘ durch die Hilfsschullehrerschaft? c) Inwieweit waren Hilfsschullehrer und Hilfsschullehrerinnen in die Sterilisationspraktiken eingebunden? (21) Als Dokumentenkorpus untersucht Brill einschlägige Fachzeitschriften (Die deutsche Sonderschule, Zeitschrift für Kinderforschung, Der Blindenfreund, Blätter für Taubstummenbildung), amtliche Verlautbarungen sowie weiteres einschlägiges Archivmaterial. An seine Dissertationsschrift anknüpfend rekonstruiert Werner Brill zunächst die Entwicklung der eugenischen Debatten im beginnenden 20. Jahrhundert und leuchtet hier insbesondere auch den Stellenwert der statistischen Erfassung von Behinderungsformen, der Versorgung und Versorgungskosten behinderter Personen aus. Anhand exemplarischer Beispiele belegt Brill, dass die damalige Hilfsschul- und Heilpädagogik sich dem eugenischen Diskurs zunehmend anschloss und dabei sozialtheoretische gegen individualtheoretische Begründungsmuster hinsichtlich der Verursachungsklärung austauschte. Zudem sei – hiermit verbunden – eine Befürwortung von Sterilisationen nachzeichenbar. Dergestalt sozialhygienische Erwägungen seien bereits in der ausgehenden Weimarer Republik zu konkreten bevölkerungspolitischen Strategien weiterentwickelt worden: 1931 gab es in Deutschland bereits 49 sog. ‚Eheberatungsstellen‘ (49). Einen solchen bevölkerungspolitischen Tenor findet Brill beispielsweise auch in einer Dokumentation des Heilpädagogischen Kongresses 1930 in Köln (43). Damit möchte er belegen, dass in Bezug auf die eugenischen Diskurse und deren sonderpädagogische Akzeptanz der Beginn der NSHerrschaft 1933 keineswegs eine „tiefe Zäsur“ darstelle (52). Im Zusammenhang mit der ubiquitären statistischen Erfassung der Hilfsschüler bereits (oder auch?) zu Beginn des Nationalsozialismus illustriert Brill, dass nicht erst durch eine drohende Schließung der Hilfsschule die Hilfsschullehrerschaft für den Erhalt dieser Institution eintrat, sondern von Beginn an deren Bedeutung für die bevölkerungspolitischen Maßnahmen des NS-Regimes herausgestellt wurde, freilich unter Heranziehung uneinheitlicher Methoden und Diagnosen (84): „Je nach Gusto werden Aussagen über Verwandte, Geschwister, Eltern oder auch Krankheiten, Alkoholismus, Auffälligkeiten etc. in die Betrachtung mit einbezogen.“ (85) Gleiches gilt übrigens auch für die Führung der Personalbögen (115). An anderer Stelle dokumentiert Brill auch die Auseinandersetzung von Hilfsschullehrern und Medizinern um die diagnostische Deutungshoheit in den Personalbögen im Kontext einer aktiven Unterstützung der eugenischen Erfassungen. Anhand ausgewählter Statistiken lassen sich Schätzungen dahingehend vornehmen, dass mindestens die Hälfte der Hilfsschüler und Hilfsschülerinnen sterilisiert wurde (277). Im Mittelteil plausibilisiert Brill den Titel seiner Arbeit: Eine der wesentlichen selbstgestellten und erwarteten Aufgaben der Hilfsschullehrer und Hilfsschullehrerinnen sei die Differenzierung von sogenannten ‚Normalen‘ und ‚Schwachsinnigen‘. Dies sei eng mit institutionellen Interessen verwoben gewesen, denn die Verweise auf eine angebliche Hilfsschulpflicht hätten die bevölkerungspolitische Relevanz der Hilfsschulpädagogik betont (107); so zitiert Brill Gustav Lenz und Karl Tornow aus dem Jahr 1942: „Die Hilfsschule ist notwendig, damit die deutsche Volksschule erfolgreich arbeiten und wirken kann“ (116). Mit dieser Aufgabenstellung habe aber die Hilfsschulpädagogik ihren pädagogischen Auftrag aufgegeben (131f.). Zugleich habe sich das hilfsschulpädagogische Streben nach einer Hilfsschulpflicht 1938 im ‚Reichschulpflichtgesetz‘ realisiert (133ff.). Der Frage nach der Legendenbildung der Gefährdung der Hilfsschule nach 1933 wird ein eigener Exkurs gewidmet (140ff.), in welchem Brill diese These insbesondere mit statistischem Material über die Schülerzahlen widerlegt. Dem schließt sich ein bislang kaum bearbeitetes Thema historischer Forschung an, nämlich die Einbindung behinderter Kinder und Jugendlicher in die NS-Jugendorganisationen. Die Sonderpädagogen und Sonderpädagoginnen in Hilfsschule und Blindenanstalt leisteten, so Brill, hier auch ihren Beitrag, ihre Schüler und Schülerinnen für paramilitärische Ausbildungen und schließlich für das Militär tauglich zu erklären – auch dies zieht Brill als Beleg dafür heran, dass die Überzeugungen und Aktivitäten der Sonderpädagogen und Sonderpädagoginnen der NS-Politik folgten. In einem weiteren Exkurs werden Dokumente vorgelegt, die eine Beteiligung deutscher Pädagogen nach dem Überfall auf Polen an bevölkerungspolitisch motivierten Ausleseprozessen nahelegen (211ff.), wie z.B. durch die zwangsweise Unterbringung von ausgewählten Kindern in Lebensbornheimen sowie durch die allgemeine Etablierung einer rassischen Erziehungsdoktrin. Inwiefern der Sonderpädagogik hier eine spezifisch eigene Rolle zukommt, kann mit dem untersuchten Material allerdings noch nicht belegt werden. Ein weiteres Kapitel befasst sich mit der Unterstützung der Sterilisationspraktiken durch die Hilfsschullehrerschaft. Zunächst wird erläutert, dass die im Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses verwendete Terminologie ‚angeborener Schwachsinn‘ (gegenüber ‚ererbtem Schwachsinn‘) der Vereinfachung der Diagnosestellung dienen sollte, da dies langwierige Nachweisverfahren über Erbgänge erübrige (229). Im Zusammenhang mit den rassehygienischen Aktivitäten der Sonderpädagogen hält Werner Brill abschließend fest, dass jenseits der bereits namentlich bekannten Funktionäre „wesentlich mehr Sonderschullehrer im Sinne der Eugenik und des GzVeN aktiv [waren, VM], als die bisherige Forschung konstatiert hat oder suggeriert“ (301). Das vorletzte Kapitel stellt eine Untersuchung der Fürsorgepraxis mit Blick auf Sterilisationen dar. Die Erforschung dieses Bereichs stehe vor dem Problem, sowohl regionale Unterschiedlichkeiten als auch unterschiedliche Strategien der Träger zu berücksichtigen, zudem thematisiere das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses Fürsorgezöglinge nur implizit (310). Analog zum Bestreben der Hilfsschullehrerschaft zur schulgesetzlichen Verpflichtung zum Hilfsschulbesuch wurde – so weist Brill nach – im Fürsorgesektor ein Bewahrungsgesetz angestrebt. Zudem sei auch am Beispiel der Haltung der Inneren Mission, die sich bereits 1931 für die Sterilisation ‚geisteskranker und asozialer Personen‘ (331) ausgesprochen hatte, belegbar, dass die NS-Bevölkerungspolitik bereits an sozialdarwinistische Tendenzen auch im Wohlfahrtssektor anknüpfen konnte. Diese von Brill vorgelegte Arbeit setzt die Erforschung der Behindertenpolitik der NS-Zeit hinsichtlich der Frage nach den beteiligten Personen und Professionen fort, die in den 1980er Jahren ihren Anfang nahm und die inzwischen auch durch lokalgeschichtliche Studien erweitert wurde. Im Stil erinnert Brill an die Arbeiten Ernst Klees, der mittels der Zusammenstellung von Dokumenten und zuweilen auch persönlich gefärbten Kommentaren zur Aufarbeitung der NS-Geschichte maßgeblich beitrug. Den roten Faden, den Brill mittels der eingangs zitierten Thesen seiner Arbeit zugrunde legt, nimmt er in den einzelnen Teilkapiteln durchgängig auf. Da Brill vorzugsweise mit Dokumentenauszügen arbeitet, die – thematisch geordnet – ausführlich zitiert und kommentiert werden, kann er zwar zweifelsfrei belegen, dass die Heil- und Hilfsschulpädagogik nicht nur mittels der bekannten Protagonisten wie z.B. Tornow oder Lesemann die NS-Politik aktiv unterstützt haben, aber es bleibt eine Frage dabei noch relativ unbeantwortet: Inwiefern lassen sich Konjunkturen von Diskursen innerhalb der herangezogenen Fachzeitschriften zuverlässig beantworten? Für eine solche Fragestellung wäre sicherlich auch eine quantifizierende Methode ertragreich, die anhand des Umfangs und der Häufigkeit von Zeitschriftenbeiträgen nachweisen kann, in welchem Verhältnis und zu welcher Zeit bestimmte Themen aufkommen, den Diskurs repräsentieren und steuern. Sodann bliebe noch zu klären, inwiefern der Zeitraum, den Brill hier absteckt, nicht noch nach ‚hinten‘ zu erweitern wäre – der eugenische Diskurs schließt bekanntermaßen an den Sozialdarwinismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts an und auch hier ließen sich Verknüpfungen zu heil- und hilfsschulpädagogischen Argumentationsstrategien sichtbar machen.

Vera Moser

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