Das Thema Autismus hat derzeit in vielen Industrienationen Hochkonjunktur. Dies ist vor allem der Verdienst betroffener Personen, die sich seit etwa 20 Jahren unmissverständlich gegen Vorstellungen wenden, dass Autismus eine Krankheit sei, die es zu heilen gelte. Auch die Autismusforschung war „nicht frei (…) von Mythen und Vorurteilen gegenüber autistischen Menschen“ (Hans Seng: Wundersame Fähigkeiten, Hamburg 2011, S. 5), hatte sie sich doch weithin vom traditionellen psychiatrischen Modell leiten lassen, welches Erscheinungsformen wie Geistige Behinderung oder Autismus eher nihilistisch-pessimistisch prognostizierte. Dabei beschränkte sich der Blick ausschließlich auf Defizite und schwere Verhaltensprobleme, die nicht selten bei Heranwachsenden beobachtet wurden, denen ein Autismus mit geistiger Behinderung (z. B. frühkindlicher Autismus, Kanner-Syndrom, atypischer Autismus) nachgesagt wurde. Die Verallgemeinerung dieser psychiatrischen Sicht hatte nicht nur tatsächlich schwer behinderten Personen, sondern ebenso allen anderen Autisten in vielerlei Hinsicht geschadet. Umso erfreulicher ist es, dass heute weltweit fortschrittliche ( Neuro-) Psychiater und Autismusforscher wie beispielsweise L.Tebartz van Elst aus Freiburg i. Br. oder L. Mottron aus Montreal sich von dieser traditionellen Pathologisierung und Defizitorientierung klar distanziert haben und im engen Schulterschluss mit Betroffenen eine verstehende Sicht von Autismus wissenschaftlich ergründen, die für eine personale Wertschätzung und Würdigung von individuellen (autistischen) Fähigkeiten und Stärken wegbereitend ist, ohne dabei real existierende Schwierigkeiten bei der alltäglichen Lebensbewältigung, im Rahmen sozialer Kommunikationen oder beruflicher Tätigkeiten zu ignorieren. Genau an dieser Stelle hat die von Christine Preißmann, „ Expertin in eigener Sache“, Fachärztin für Allgemeinmedizin und Psychotherapie, herausgegebene Schrift ihren Platz, welche alltägliche „Schlüsselthemen“ (Schule, Arbeit, Partnerschaft, Wohnen, Freizeit, Krankheit) aus der Betroffenen-Perspektive aufgreift und dabei sieben sogenannte Asperger-Autistinnen mit persönlichen Erfahrungsberichten zu Wort kommen lässt. Darüber hinaus bietet das Buch fachliche Informationen und spezielle Ratschläge in Bezug auf Mobbing, Stressmanagement, Integration, Studium, Gesundheitsvorsorge, Entspannung u. a. m. Fühlbarer Hintergrund der Themenaufbereitung ist eine lösungs- und ressourcenorientierte Sicht, die optimistisch stimmt und die für die Unterstützung von allen Autisten ein Gewinn sein kann - wohl wissend, dass die bisherigen Bilder und Einteilungen eines Autismus (frühkindlicher, Asperger, atypischer…) kritisch zu sehen sind und demnächst im DSM V unter der Kategorie „Autistic Spectrum Disorder“ zusammengefasst werden sollen. Das Buch beginnt mit einer knappen Einführung in das sogenannte Asperger-Syndrom. Anschließend folgt das erste Hauptkapitel, welches sich dem Thema Schule widmet. Wir erfahren, dass Pausen, unstrukturierte Zeiten oder auch Unterricht „zeitweise regelrecht zur Qual“ (Sascha Dietsch, S. 18) werden können und dass zum Beispiel Schulbegleiter in einer Schule nicht immer willkommen sein müssen. Neben spezifischen Problemen enthält das Kapitel freilich auch Lösungsvorschläge und wertvolle Tipps für Lehrkräfte. Im zweiten Hauptkapitel geht es um die Frage, wie Menschen im Autismus-Spektrum im Arbeitsleben Fuß fassen können. Diesbezüglich beklagt Christine Preißmann, dass Erfordernissen im Hinblick eines unbehinderten Arbeitens auf dem ersten Arbeitsmarkt noch viel zu wenig Rechnung getragen wird und dass „viele Betroffene in Behindertenwerkstätten (landen), in denen ihre Fähigkeiten kaum zur Geltung kommen“ (S. 48). Dabei imponieren Autisten nicht selten mit spezifischen Stärken (Sorgfalt, Detailgenauigkeit, Verantwortungsbewusstsein, Loyalität usw.), deren Wert – so Kilian Streff - auch von Beratern und Beraterinnen in Arbeitsagenturen erkannt werden sollte, um „konstruktive Hilfe“ (56) bei der Arbeitssuche und Schaffung eines „autismusgerechten Arbeitsplatzes“ (S. 69) leisten zu können. Das dritte Hauptkapitel widmet sich dem „schwierigen Feld zwischenmenschlicher Beziehungen“, indem mit zwei Betroffenen- Berichten spezifische Probleme im Hinblick auf Freundschaften, partnerschaftliche Beziehungen, Sexualität und Körperkontakt vor Augen geführt werden. Bemerkenswert ist dabei der Hinweis von Nicole Höhlriegel (S. 90), dass die übliche Annahme, Autisten würden Berührungen nicht mögen, keineswegs verallgemeinert werden dürfe. Allerdings habe es bei ihr eine Zeit gedauert, bis sie und ihr Partner herausfanden, „in welcher Form Körperkontakt angenehm ist und wann es zu Stress oder gar Abwehr kommt“ (S. 90). Ferner lässt sie nicht unerwähnt, dass Autisten sehr wohl Gefühle haben, wenngleich sie damit anders umgehen, was zu Missverständnissen und Unterstellungen („fehlende Sensibilität“) führen kann. Dies möchte Höhlriegel vermeiden, weshalb sie sich „in vielen Situationen nichts sehnlicher (wünscht), als zu ahnen, wie man auf einen Nicht-Autisten reagieren soll“ (S. 93). Dass neurotypische Partner eine wichtige Funktion als Unterstützer haben können, ist dem nachfolgenden Bericht von Simone Pinke zu entnehmen, der zu Informationen über Möglichkeiten systematischer Unterstützungsformen zur Anbahnung und Pflege von Freundschaften im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter überleitet. Der vierte Hauptteil, dem ein fachliches Intermezzo im Hinblick auf „Vernetzt leben“ unter besonderer Würdigung der Selbstvertretung und Selbsthilfe (Aspies e. V.) vorgeschaltet ist, befasst sich mit der Thematik des Wohnens und mit Fragen zur Gestaltung der freien Zeit. Diesbezüglich haben Spezialinteressen oder Hobbies, wie sie zum Beispiel Stefan Wepil mit seiner bemerkenswerten Bildnerei redlich pflegt, einen prominenten Stellenwert im Hinblick auf Entspannung, Erholung und psychische Gesundheit. Was das Wohnen betrifft, so lässt sich aus den Betroffenen-Berichten unschwer entnehmen, dass ein Leben in einem Heim keine Option darstellt. Stattdessen wird – wie es die Behindertenrechtskonvention kodifiziert hat – das private, selbstbestimmte Wohnen in der eigenen Wohnung favorisiert, das es bedarfsbezogen zu unterstützen gilt. Ein solcher Ansatz, der sich vom Einzel- oder Paarwohnen bis hin zum Leben in kleinen Wohngemeinschaften erstrecken kann, hat im Hinblick auf alle Menschen im Autismus-Spektrum in anderen Staaten (z. B. USA) schon viele Jahre Tradition. In Deutschland hingegen befinden wir uns erst am Anfang einer solchen Entwicklung. Das bemängelt letztlich auch Nicole Höhlriegel, die zudem in ihrem Bericht anmerkt, „dass es nicht nötig ist, etwas extra für Autisten zu organisieren“ (S. 138). Dieser Erkenntnis ist zuzustimmen, wenn eine person-zentrierte Planung als Voraussetzung für eine Organisation individualisierter, passgenauer Unterstützung stattfindet. Um dies zu erreichen, müssen überholte Wohnkonzepte nach der Differenzierung in „ambulant oder stationär“ zugunsten flexibler Wohnformen (mit bedarfsbezogener Unterstützungsintensität) aus der Betroffenen-Perspektive abgeschafft werden. Im fünften, letzten Hauptteil des Buches geht es um das Thema Gesundheit und Krankheit, vor allem um Fragen einer angemessenen medizinischen Behandlung, die sich auf allgemeine Arztbesuche und Krankenhausaufenthalte erstreckt. Wie schon zuvor wird in diesem Kapitel gleichfalls deutlich, wie wichtig Information und Aufklärung von neurotypischen Personen einzuschätzen sind. Abgerundet wird die Schrift mit einem Nachwort, das sich der Ressourcen- und Stärken-Perspektive verschrieben hat, die bekanntlich allzu lange von Fachverbänden und der Autismusforschung ignoriert worden ist. Insgesamt gelingt es Christine Preißmann mit ihrem neuen Buch hilfreiche Anregungen nicht nur zur Prävention von Verhaltensproblemen bei Autismus sowie zum Verständnis autistischer Verhaltens- und Erlebensweisen, sondern ebenso zum Umgang mit Autisten zu geben. Wenngleich sie sich auf sogenannte Asperger- Autisten beschränkt, dürften gleichfalls andere autistische Personen davon profitieren. Ich hoffe, dass die Schrift insbesondere auch angesichts ihrer leichten und aufgelockerten Zugänglichkeit, die mit themengebundenen Bildwerken von Antoni Gaudi angereichert wurde, eine breite Leserschaft erreichen kann.
Georg Theunissen
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